«Schimpfwörter passen gut zu mir»

Foto: Lisa Linder
Gina Walter ist Primarlehrerin und Slam-Poetin. Wie sie beides miteinander vereinbart und welches Billig-Gericht sie zu Texten inspiriert, erklärt sie der bärner studizytig im Gespräch.
2017 warst du Poetry Slam Schweizermeisterin U20. Nun bist du für die Schweizermeisterschaft 2022 qualifiziert. Passiert es, dass dich Leute auf der Strasse wiedererkennen?
Ja, aber selten. Ich glaube, ich bin zu wenig Mainstream, als dass Leute mich erkennen würden. An den Schweizermeisterschaften meldet man sich ohnehin selbst an. Man muss dafür nicht nominiert werden. Teilnehmen können alle, die mindestens acht Mal irgendwo aufgetreten sind. Es gibt nur eine oberste Regel: Dein Text muss selbst geschrieben sein.
Wie würdest du deinen eigenen Stil beschreiben? Das finde ich schwierig.
Jemand sagte mir mal, meine Texte seien schwer beschreibbar, weder Hochdeutsch noch Mundart, aber doch einzigartig. Grundsätzlich schreibe ich über Dinge aus meinem Alltag, über die ich oft nachdenke. Das meiste habe ich selbst erlebt, es sind kleine Momente in meinem Leben, die mich inspirieren – oder wütend machen.
«Slam darf alles, ausser diskriminieren.»
Was triggert dich denn?
Leute, die Spaghetti mit Ketchup essen. Das sieht unglaublich eklig aus und ich begreife nicht, wieso man das macht. Aber ich schreibe eigentlich nie über Themen, die mich ernsthaft aufregen. Politisches und Wertehaltungen zum Beispiel. Ich will nicht, dass jemand meine politische Einstellung bewerten darf.
Aber Politisches zieht sehr, oder nicht?
Ja, das stimmt und das ist auch in Ordnung, schliesslich darf Slam alles, ausser diskriminieren. Viele Leute können sehr gut politische Texte schreiben und die sollen das gerne machen (lacht). Es ist ja auch wichtig, dass jemand über diese Themen spricht und aufklärt. Aber ich könnte schlecht damit umgehen, wenn es nicht ankommt und hätte keine Lust, mit wildfremden Menschen darüber zu diskutieren.
Und abgesehen vom Politischen schreibst du über alles?
Auch bei Privatem und Emotionalem halte ich mich eher zurück. Ich will das nicht mit allen teilen. Ich schrieb zwar mal einen Text darüber, wie ich mich in meinen Freund verliebt habe. Aber auch da versuche ich einen spielerischen Umgang damit zu haben – ist wohl auch Selbstschutz.
Willst du denn mit deinen Texten nicht provozieren?
Doch, und zwar in jedem Text ein bisschen. Ich mag zum Beispiel Schimpfwörter, die passen gut zu mir und meinen Texten. Allerdings sind da die Reaktionen manchmal negativ. Auch meine Schüler*innen haben schon Videos von mir gesehen, in denen ich fluche. Da muss ich dann erklären, dass das eine Bühnenperformance ist und ich im Alltag und vor allem als Lehrperson nicht so spreche.
«Ich will nicht, dass jemand meine politische Einstellung bewerten darf. »
Wann läuft es dir am besten beim Schreiben?
Ich schreibe meistens am Abend, wenn ich alleine bin, so ab 22:00 Uhr läufts gut. Vor allem dann, wenn in meinem Leben viel los ist, da ich dann mit Allerlei in Berührung komme. Hinderlich ist es, eine Woche lang nur in der Schule zu sein. Dann bin ich abends müde, aber war nur mit Kindern im Kontakt. Natürlich ist es auch lustig, einen Text darüber zu schreiben, aber nach drei Texten reichts dann mal. Covid hemmt meine Inspiration auch, da man nicht so viel unternehmen kann.
Du schreibst ja auch Auftragstexte. Für wen?
Alles Mögliche. Zum Beispiel Privatpersonen, die sich bei mir melden, oder auch Museen, Schulen, Slam-Veranstaltungen, Politik…
Hast du auch schon Aufträge abgelehnt?
Ja. Manchmal aus Zeitgründen, teils aber auch, weil ich mit den Auftraggeber*innen oder dem Honorar nicht zufrieden war. 200.- Franken für einen Text sind zum Beispiel zu wenig. Mit den Honorarempfehlungen des Verbandes der Autorinnen und Autoren der Schweiz bin ich meistens einverstanden.
«Preacher-Slams gibt es oft und ich finde es eine tolle Sache.»
Du hattest mal einen Auftrag in der Kirche, passt Poetry Slam da rein?
Solche «Preacher-Slams» gibt es oft und ich finde das eine tolle Sache. Die Kirche hat es initiiert, weil sie den Anschluss zur Jugend suchte und sich offener zeigen wollte. Es gab keine Vorgaben oder Zensuren, sonst hätte ich nicht mitgemacht. Allerdings habe ich nicht damit gerechnet, dass sich danach viele kirchliche Organisationen bei mir melden würden, in der Annahme, ich sei in der Kirche engagiert.
Du sagtest mal, Slam sei am Anfang ein Hobby gewesen, nun aber ein Job geworden.
Ja, das ist es, obwohl es mir immer noch viel Freude bereitet. Doch Slam nimmt so viel Zeit und Energie in Anspruch, dass ich nicht mehr nur nach Lust und Laune schreibe. Es ist zu aufwändig, als dass es einfach ein Hobby sein könnte. Darüber hinaus gebe ich jetzt auch Workshops, auch deshalb würde ich es nicht mehr als Hobby bezeichnen. Mittlerweile bin ich offiziell registriert als selbständig erwerbend.
Dann hast du jetzt zwei Berufe nebeneinander?
Zusammen mit meiner Arbeit als Primarlehrerin habe ich ein ziemlich grosses Pensum. Das ist manchmal anstrengend, aber ich finde es schön, dass meine Arbeit so gefragt ist.
«Je anonymer und grösser das Publikum, desto besser.»
In beiden Jobs stehst du vor Leuten und bist ausgestellt.
Ja, aber ganz auf eine andere Art. Kinder sind gnadenlos, meistens finden sie einen nicht lustig, sondern uncool. Und das ist auch gut so, die müssen mich ja auch nicht cool finden. Natürlich brauchen beide Jobs mehr Auftrittskompetenz als ein Bürojob, aber sie sind schon sehr unterschiedlich.
Und bei den Auftritten, spielt es da eine Rolle, wer im Publikum sitzt?
Ja, für mich gilt: Je anonymer und grösser das Publikum, desto besser. Denn so ist es mir ziemlich egal, was die Leute denken, die sehe ich ja nie mehr.
Wie fest hängt denn die Textauswahl mit dem Publikum zusammen?
Es gibt Leute, die einen Text absichtlich vor einem bestimmten Publikum bringen wollen, um zu provozieren. Das kann in beide Richtungen gehen: Man bringt einen Text, weil er passt, oder eben gerade, weil er nicht passt.

Hat sich viel verändert an den Auftritten, seit du slamst?
Die Locations und Grösse meiner Auftritte haben sich sehr verändert. Ich werde nun auch ins Ausland eingeladen, was anfangs gar kein Thema war. Für mich persönlich ist das Auftreten nicht mehr so unbeschwerlich. Früher ging ich einfach auf die Bühne und habe geschaut, was geht und was nicht.
Und heute?
Jetzt überlege ich mir viel mehr im Vornherein, ob dieses oder jenes in den Text passt und ob ich das so vortragen möchte. Wenn der Auftritt gefilmt wird, mache ich mir Sorgen, ob das meine Schüler*innen sehen werden. Aber das Auf-der-Bühne-Stehen ist gleich geblieben, das fühlt sich seit jeher gut an.
Hemmt es dich also beim Schreiben, wenn du weisst, dass es vielleicht deine Schüler*innen sehen werden?
Ja, schon. Denn zum Beispiel Feminismus und sexuelle Aufklärung liegen mir sehr am Herzen und ich würde es eigentlich gerne mal in einem Text behandeln, aber ich frage mich schon, ob sich die Eltern meiner Schüler*innen dann denken: Ah, das ist jetzt diese Lehrerin, die über Masturbation schwatzte.
Könntest du dir vorstellen, das Unterrichten zu pausieren, um freier zu sein in deinen Texten?
Ich finde es schwer zu sagen, wo ich in fünf Jahren stehen werde. Vielleicht setze ich auf die Schule, vielleicht auf die Kunst oder auf etwas ganz Neues. Das überlege ich mir momentan, jetzt, wo die Pandemie zu Ende ist.
Zurück zum Feminismus: Welche Rolle spielt es auf der Bühne, dass du eine Frau bist?
Die Leute erwarten natürlich, dass ich über genau solche Themen spreche, eben weil ich eine Frau bin. Dass ich nicht über Feminismus spreche, heisst nicht, dass ich nicht feministisch bin. Abgesehen davon finde ich es an sich schon feministisch, als Frau auf der Bühne zu stehen.
Inwiefern?
Ich zeige so, dass man als Frau auch lustig sein oder fluchen kann. Trotzdem werde ich immer wieder mit Sexismus konfrontiert. Und da ist auch diese Frage, die ich mir manchmal stelle: Bin ich eingeladen, weil ich eine Frau bin, oder weil ich gut ins Line-Up passe?
Kannst du ein Beispiel für Sexismus nennen, das du erlebt hast?
Für eine Lesebühne hatten wir mal eine Finanzbesprechung. Es war ein Viererteam; zwei Männer, zwei Frauen. Als dann wir Frauen zum Meeting erschienen, waren die Verantwortlichen der Location ganz erstaunt. Einer Frau wird das weniger zugetraut. Auch wenn ich persönlich angefragt werde, muss ich immer wieder erklären, dass und warum ich eben kein Management habe. Es wird ein Management erwartet, oder, dass ein Mann das macht, nicht du selbst. Ein andermal bin ich von der Bühne gegangen und eine Zuschauerin wies mich darauf hin, dass meine engen Hosen vom Text ablenken würden.
«Frauen trauen sich weniger, lustige Texte zu schreiben.»
Du hast gesagt, du willst zeigen, dass man als Frau auch lustig sein kann. Ist Lustigsein sonst den Männern vorbehalten?
Ich glaube durchaus, dass Frauen sich eher fragen: Was, wenn nicht gelacht wird, was, wenn ich nicht lustig bin? Deswegen trauen sich Frauen vielleicht weniger, das überhaupt auszuprobieren. Das hat ein Jugendlicher oder Mann beispielsweise noch nie an einem Workshop gesagt. Aber es gibt noch weitere Gendergaps, vor allem bei den Themen, die in Texten angesprochen werden.
Was meinst du damit?
Ich gebe Workshops in Schulklassen. Dabei fällt immer wieder auf: Tiefgründige, moralische Hammer-Texte, die dich kaputt machen, kommen oft von jungen Mädchen, zum Beispiel über Selbstverletzung und Gewicht. Währenddessen schreiben Jungs eher über Fussball.
Und lustige Texte kommen besser an?
Ja, das passiert leider sehr oft. Natürlich ist das unfair für alle, die einen traurigen oder nachdenklichen Text schreiben. Aber das Gewinnen ist gar nicht das Wichtige am Auftritt. Das sagen gerade diejenigen, die lyrische Texte schreiben. Sie wissen, dass ihre Texte handwerklich sehr aufwendig waren. Wenn sie nicht wertgeschätzt werden, war es vielleicht nicht das richtige Publikum, oder das Publikum war zu müde.
Wenn der Wettbewerb gar nicht im Mittelpunkt steht, wieso braucht es ihn dann noch?
Darüber habe ich letztens mit Slam-Kolleg*innen diskutiert. Wir kamen zum Schluss, dass der Wettkampf nur fürs Publikum ist, damit die Leute das Gefühl haben, sie können etwas beitragen. Es geht darum, den Auftritt davon abzugrenzen, einfach ein Lese-Abend zu sein. Es ist spannender, wenn du entscheiden kannst, wer den Whisky mit nach Hause nimmt.
Macht euch der Wettbewerb zu Einzelkämpfer*innen?
Grundsätzlich ist man schon alleine im Wettbewerb, obwohl es auch die Kategorie «Team» gibt. Aber der Wettbewerb ist den meisten egal. Wir kennen uns ja privat und unternehmen auch gemeinsam Dinge. Ich habe mehrere sehr gute Freundschaften geschlossen durch die Szene. So fühlen sich Meisterschaften eher wie ein Klassenlager an.
Wie beeinflusst dieser enge Austausch deine Texte? Inspiriert ihr euch gegenseitig oder läuft ihr Gefahr, in der Blase dieselben Themen wiederzukäuen?
Ich glaube, man bewegt sich schon in einer Blase. Gerade weil man bewertet wird, wiederholt man das, was gut ankommt. Man merkt sich, was funktioniert und was nicht. Man will ja keinen Text schreiben, der die Leute nicht unterhält. Dennoch finde ich, dass der Austausch unter uns Slamer*innen zu mehr Diversität führt, denn themenmässig beschneiden wir uns überhaupt nicht. Wir ermutigen uns viel eher und geben uns konstruktive Kritik. Zum Beispiel: Hey, diese Pointe funktioniert besser, wenn du diese beiden Wörter tauschst.
Gibt es schweizweite Gruppen, in denen gemeinsam geschrieben wird?
Für Schüler*innen schon. Es gibt ein Schreibhaus für Jugendliche in Basel und das Projekt «Slam-at-school» in Bern. In St. Gallen macht «Solarplexus» etwas Ähnliches und im Aargau wird auch gerade etwas aufgebaut. Alle Angebote beziehen sich aber auf die Schule, für Erwachsene gibt es nichts. Ich fände es schön, wenn es ähnliche Projekte in einem grösseren Kontext gäbe, als Verein zum Beispiel.
Neben dem Text spielt das Auftreten ja auch eine Rolle. Wie wichtig ist schauspielerisches Können?
Es gibt Leute, die schauspielern überhaupt nicht. So etwa die Basler Slamerin Fine Degen, die ihre Texte einfach vorliest. Dank ihrer tollen Stimme funktioniert das wahnsinnig gut. Und es gibt das Gegenteil: Valerio Moser zum Beispiel schlägt auf der Bühne Purzelbäume und macht Handstände. Der Text spielt bei ihm eine andere Rolle als bei Fine. Wenn ich den vortragen würde, hätte das nicht dieselbe Wirkung. Man muss eine Balance finden für sich selbst, es gibt da keine Faustregel.
Du ziehst also keine verrückte Show ab?
Nein. Zumindest übe ich im Voraus keine Performance ein, auch nicht vor dem Spiegel. Wenn ich einen Text das erste Mal vortrage, drucke ich ihn aus und nehme ihn auf die Bühne mit. Die Performance dazu entwickelt sich erst mit der Zeit, wenn ich merke, wo ich meine Stimme und meinen Körper wie einsetzen kann.
Du übst also Texte erst vor dem Publikum. Du recycelst sie aber auch immer wieder.
Ja, klar. Ich habe etwa drei Texte pro Saison. Die darf man immer wieder vortragen, nur nicht am selben Ort. Manche haben bis zu fünf Texte pro Saison, aber mehr sind eher selten, ausser wenn jemand neu angefangen hat und gerade sehr schreibwütig ist. Von den Leuten, die ich oft auf der Bühne sehe, höre ich eine Saison lang immer wieder dieselben Texte.
Wird das nicht monoton?
Und wenn schon! Valerio Moser sagte kürzlich zu mir: Es ist wie eine Band, die immer wieder ihre guten Songs spielt, da erwartet auch niemand, dass immer etwas total Neues kommt.
Was ist eigentlich der Unterschied zwischen Poetry Slam und Stand-Up Comedy?
Das Poetry im Poetry Slam steht als Sammelbegriff für das Vortragen von Texten aller Art. Es gibt keine Begrenzung, Poetry Slam darf wirklich alles. Stand-Up-Comedians können auch bei uns auftreten, wenn sie ihr Set auf sechs Minuten anpassen.
Poetry Slam ist also diverser als andere Künste?
Ich kann nicht bejahen, dass wir diverser sind als andere Künste. Aber wir sind schon sehr divers. Die Leute haben verschiedenste Hintergründe, sind jung und alt. Aus dem Bernbiet haben wir beispielsweise einen über 70-jährigen Slamer. Manche arbeiten Vollzeit kunstschaffend, andere sind unter der Woche im Büro. Aber alle bringen ihr Päckchen mit. Manche haben eine Familie, andere einen Garten. Wir sind wie ein Hobby-Fussball-Verein.
Und wie divers ist das Publikum?
Mehrheitlich nicht sonderlich divers. Es sind Menschen, die sich das Ticket und die Zeit leisten können, sich dem Thema nicht verschliessen und die deutsche Sprache beherrschen, sprich ein eher linkes und weisses Publikum, das sich dann vor allem vom Alter her unterscheidet. Es kommen Jugendliche sowie Erwachsene und Rentner*innen und auch immer wieder Leute, die noch nie an einem Slam waren. Am Anfang fragt man ja immer, wer das erste Mal an so einem Anlass teilnimmt, und da heben immer einige die Hand.
Du stehst nun schon seit mehreren Jahren auf der Bühne. Wie prägt dich die langjährige Erfahrung?
Ich habe mehr Sicherheit. Ich weiss, wer ich auf der Bühne sein will und was ich sagen will. Am Anfang war das noch ein Ausprobieren. Ich musste herausfinden, was für eine Bühnen-Person ich sein wollte. Dabei versuche ich möglichst nicht zwischen normalem Ich und Bühnen-Ich zu unterscheiden. Ich bin auf der Bühne authentisch und spreche ja über Dinge, die mir begegnet sind.
Hast du nie Lampenfieber oder Angst?
Angst habe ich nur, dass sich die Steuerbehörden bei mir melden könnten, weil ich was falsch abgerechnet habe (lacht). Ich hatte früher ganz selten Lampenfieber, inzwischen eigentlich nicht mehr. Schon als Kind spielte ich gerne Theater und fand es cool, Vorträge zu halten. Auch meine Eltern standen immer voll hinter mir. Abgesehen davon hatte ich auch sehr viel Glück. Ich musste mich beispielsweise nur selten für Open-List-Auftritte eintragen, weil sich die Leute einfach bei mir meldeten.
Hast du einen Tipp für unsere Leser*innen?
Falls du Slam nicht kennst: Komm doch mal und hör rein! Oder fang gleich selbst an zu schreiben, wenn du Lust hast. Wir sind offen für alle.