Holy Sh*t!

Beten und beten

Der Himmel ist nah. Bild: Sam von Dach

13. März 2016

Von

«Bleib bloss nicht hängen!», meinte ein Freund besorgt, als ich von meinem Abstecher zur Freikirche erzählte und meine Mitbewohnerin warnte, ich solle auf keinen Fall etwas unterschreiben. Dabei wollte ich nur herausfinden, was die Christen so treiben.


Ich treffe Tim am Bahnhof, es ist Sonntagabend und in der Kälte stehen rauchende Rekruten. Die Frau mit dem grossen Rucksack und den Papiertüten will Kleingeld von den Passanten. Pärchen umarmen sich, als hätten sie sich wochenlang nicht mehr gesehen. Tim trägt zwei blaue IKEA-Taschen, gefüllt mit Kleidern. «Wir sammeln für die Flüchtlinge», sagt er. Tim ist Theologiestudent, 21, will Pfarrer werden. «Wir» ist Vineyard, eine Freikirche, die lieber «Bewegung» genannt werden möchte oder, wie eine kleine schwarze Infobroschüre erklärt, «eine Gemeinschaft von Menschen, die Gott leidenschaftlich lieben.»

Gratis-Spiritualität

An der Nägeligasse 9 gibt es einen hohen, hellen Raum. Stuhlreihen richten sich zu einer Bühne mit Grossleinwand. Neben der Bühne ragen die Pfeifen einer Orgel bis zur Decke. Als wir eintreten, werden wir geradezu begeistert begrüsst: Tim schüttelt Hände und umarmt, ich bekomme ein Kärtchen, das mich zu einem Gebetsmarathon einlädt. Wir setzen uns in die hinterste Reihe und schauen zu, wie fünf junge Männer und Frauen auf der Bühne an ihren Instrumenten rumschrauben. Die Stimmung ist gelöst, man lacht und plaudert – fühle dich willkommen, liebe deinen Nächsten und spread the love. Trotzdem ist das Ganze hier ernst: Die Menschen scheinen leicht hibbelig auf den Beginn des Spektakels zu warten, und wird das Wort «Gott» verwendet, schnippt niemand relativierend Gänsefüsschen in die Luft.

Eine blonde Frau mit Mikrofon betritt die Bühne. Sie stellt sich als Antonia vor und erklärt, dass die Gratis-Spiritualität professionell durchorganisiert ist: Es gebe einen Kinderhort, die Gebetsecke und einen Infopoint, wo ich bunte Broschüren erhalte mit viel Text und wenig Information. Vor uns steht ein junger Mann am Mischpult und überträgt das Geschehen auf der Bühne aus drei verschiedenen Kamerawinkeln auf die Leinwand. Bei Vineyard sind alle per Du, sogar Gott ist ganz léger «dr Vater». Die meisten Anwesenden sind Mitte zwanzig, die Hipster-Dichte ist auffallend hoch. Junge Christen tragen enge Jeans und brav  hochgerollte Mützen, sodass die Ohren darunter hervorschauen.

Bei Vineyard sind alle per Du, sogar Gott ist ganz léger «dr Vater».

Was dann beginnt, ist eine merkwürdige Mischung aus Singer-Songwriter-Konzert, Seelenstriptease und Gottesdienst: Der Glatzköpfige am Synthesizer schlägt einen tragenden Ton an, die blonde Frau am Mikrofon schaut zum Himmel und sagt in die lauter werdende Musik hinein: «Papa, wir wollen dir Raum geben!» Die Leute stehen erwartungsvoll auf und der Gitarrist beginnt mit erschreckend schöner Stimme zu singen: «You make beautiful things out of the dust.» Die Lyrics flimmern über die Leinwand.

Worship-Voyeurismus

Ich denke vor allem zwei Dinge. Erstens: Ich war schon an schlechteren Konzerten. Zweitens: Fremden Menschen beim Beten zuzuschauen, fühlt sich ähnlich voyeuristisch an, wie fremde Menschen beim Orgasmus zu beobachten. Sie strecken die Arme aus und schütteln ekstatisch die Köpfe, manche sitzen still da mit geschlossenen Augen, andere verziehen das Gesicht, als hätten sie Schmerzen. Mir ist das Ganze ein wenig peinlich und ich frage mich, ob es so etwas wie Religionsprüderie gibt – Ausdrücke wie «die Liebe zu Jesus», «gute Christen» oder «Gottes Herrlichkeit » machen mich ähnlich verlegen wie die hingebungsvoll Betenden, und «Gott» zu sagen, schaffe ich nur, wenn ich das Wort ironisch betone.

Tim erklärt mir, die Musik solle Gott spürbar machen, und natürlich spüre auch ich etwas, wenn ich Musik höre – der Bass im Bauch an Dubstep-Partys, die entspannende Erleichterung, im Chor singend eine Dissonante aufzulösen, Enthemmung in einer tanzenden Menge – nur wäre es mir nie in den Sinn gekommen, dieses «etwas» Gott zu nennen.

Godstories

Ich glaube ziemlich schnell zu verstehen, weshalb sich so viele Menschen Freikirchen anschliessen: Diese Kirche ist ein ironiefreier Raum. Hier gibt es kein akademisches Fremdwörter-Schaulaufen, keine zynischen Witze, kein rationales Hinterfragen oder systematisches Aufzeigen von Widersprüchen. Hier werden nicht mit skeptisch hochgezogenen Augenbrauen Studien zitiert, hier wird nicht mit sarkastischem Unterton über Gefühle und Werte geredet. Hier stellen sich Menschen auf eine Bühne und erzählen von ihren Fehlern und Schwächen, es wird von Scheidungen und Hoffnungslosigkeit geredet, von Momenten des Zweifels und dazu wird geklatscht und gepfiffen.

Fremden Menschen beim Beten zuzuschauen, fühlt sich ähnlich voyeuristisch an, wie fremde Menschen beim Orgasmus zu beobachten.

Da gibt es beispielsweise die «Godstories»: Jemand erzählt anekdotisch, wie ihm oder ihr Gott im Alltag begegnet sei. Eine junge Frau arbeitet mit der Kindergruppe der Freikirche, den Vin- Kids. Sie erzählt leicht atemlos, wie bei einem Bekannten Krebs diagnostiziert worden sei, wie die Kinder prophetisch über Hindernisse sprangen und der Bekannte kurze Zeit später geheilt gewesen sei, yes! Im Saal wird geklatscht und gejohlt. Oder die Geschichte von den Vineyards, welche vor einem buddhistischen Tempel einen Tag lang Menschen heilten, indem sie für sie beteten – «das zeigt einfach, welche Auswirkungen das hat, wenn wir beten!», sagt ein junger Mann mit Bart, der neben der stummen Orgel auf der Bühne steht.

Gottes Wille und Gottes Wege

Später sitzen wir in einer Beiz zwei Strassen weiter. Tim trinkt Bier, ich Tee.

«Natürlich gibt es Dogmen, Religion funktioniert nicht ohne Dogmen. Die Frage ist vielmehr, wie konkret diese sind», sagt er und trinkt einen Schluck. Vineyard sei ziemlich zurückhaltend in dieser Hinsicht, meint er. Über die erste Prämisse kann jedoch nicht diskutiert werden: Gott existiert und ein gutes Leben zu führen, bedeutet so zu leben, wie Jesus es getan haben soll.

Aber wie, frage ich, wie kann man an einen guten Gott glauben, wenn Flüchtlinge im Meer ertrinken und sich Menschen reihenweise in die Luft sprengen? Tim überlegt. Das Theodizee-Problem sei eine schwierige Frage, sagt er dann. Aber es gebe Gottes Wille und Gottes Wege, welche wir nicht immer verstünden. Und irgendwie brächten uns diese Fragen auch nicht weiter, die Welt sei nun mal so wie sie sei, lass uns das Beste daraus machen.

Drei seiner Kollegen setzen sich zu uns. Sie lachen, als ich sie nach ihrer Meinung zu Homosexualität und Sex vor der Ehe frage und einer fragt, ob ich nicht noch wissen wollte, was er von der Evolutionstheorie halte. Sie kennen die Klischees – alle wollten mit ihnen über Homosexuelle reden, alle wollten sie als Homophobe entlarven, dabei sei Sexualität nur ein kleiner, nebensächlicher Bereich in ihrem Wirken. Kaum jemand nehme ihre Arbeit mit Randständigen und Flüchtlingen zur Kenntnis, sagt Tim leicht anklagend und die anderen nicken.

«Manche Flüchtlinge erwarten fast, dass wir ihnen den christlichen Glauben näherbringen.»

Der Futtertrog und die Homosexuellen

Eine Woche später treffe ich Debora Alder-Gasser und ihren Vater Wilf Gasser in der Cafeteria an der Nägeligasse 9. Sie haben sich bereit erklärt, mir mehr über Vineyard zu erzählen. Zwischen uns steht ein Teller mit Keksen und kleingeschnittener Banane, der Raum ist voller Menschen, die essen, Kaffee trinken und reden.

Bei Vineyard kann man nicht Mitglied werden, «wir sind eine Herzensgemeinschaft », sagt Debora, die kurze rote Haare hat und ein freundliches Gesicht. «Wir sind sogar darauf angewiesen, dass Vineyard den Leuten ans Herz wächst», ergänzt Wilf, «wir finanzieren uns schliesslich über private Spenden.» Wilf ist Teil des Leitungsteams und ausserdem Vize-Generalsekretär der Weltweiten Evangelischen Allianz, eines internationalen Netzwerkes evangelikaler Bewegungen und Kirchen. Ich kenne ihn schon aus dem Internet: Der Sexualtherapeut bietet gemeinsam mit seiner Frau Seminare zu «wachsender Intimität in der Ehe» an. In seinem Videoratgeber erklärt das Ehepaar an einem Bistrotisch sitzend unter anderem, dass die Lustlosigkeit des Mannes oft auf Pornokonsum oder Selbstbefriedigung beruhe und der Ehebund eine bessere Grundlage für Streitereien bilde.

Auch Debora und Wilf betonen, dass Flüchtlingshilfe seit Jahren ein Schwerpunkt der Vineyard sei. Geht es dabei darum, den Glauben zu verbreiten? «Mission ist ein extrem negativ behaftetes Wort», meint Debora, «es geht doch vor allem darum, etwas teilen zu wollen. Entdecke ich ein gutes Restaurant, möchte ich am liebsten allen davon erzählen – so geht es mir auch mit der Nähe zu Gott.» Rund 120 Leute kämen in Deutschkurse, in welchen der Glauben nicht in den Unterricht einfliesse. Wilf betont jedoch: «Manche Flüchtlinge sind desillusioniert über den Islam, und erwarten fast, dass wir ihnen den christlichen Glauben näher bringen.»

Vineyard möchte ausserdem nicht als klassische Freikirche verstanden werden, sie sei vielmehr eine Laienbewegung innerhalb der reformierten Kirche Bern-Jura-Solothurn. Ein wichtiger Unterschied betreffe das Grundgerüst der Gemeinschaft, wie eine Metapher aus dem Reich der Tiere veranschaulichen soll: Im Gegensatz zu anderen Freikirchen fasse die Vineyard ihre Herde nicht mit einem dogmatischen Zaun ein, wodurch man entweder ein- oder ausgeschlossen würde. Vielmehr anerböten sie einen mit Werten gefüllten Futtertrog, um welchen man sich frei und ohne Schranken schare. Doch wie wird beispielsweise mit Homosexuellen umgegangen? «Da gibt es schon ein Spannungsverhältnis », meint Wilf, «weil wir einerseits natürlich niemanden ausgrenzen wollen, andererseits von der Bibel her einen schwulen Lebensstil nicht einfach gutheissen würden.»

Mit Gott auf dem Sofa

Nach meinem Gespräch mit Wilf und Debora sitze ich noch einmal im Gottesdienst: Die Musik ist schlechter diese Woche, die Sängerin hat eine hohe, leicht gepresste Stimme. Schräg vor mir steht ein auffallend gutaussehendes Paar und singt mit ausgebreiteten Armen und geschlossenen Augen. Nach der Musik erzählt eine Frau, was es braucht, um mit Gott in Beziehung zu treten und erklärt, dass «Bund mit Gott» auf Hebräisch dasselbe bedeutet wie «Sofa». Gott lade uns also ein, so der logische Schluss, neben ihm auf einem Sofa Platz zu nehmen. Sowieso ist die Beziehung zu Gott äusserst innig: Das Treffen mit Gott sei vertraut und könne man sich überwinden, täglich zu beten, komme sogar eine Art Romantik auf. Romantik bei Papa, Gott sei in mir und ich sei in Jesus – ich fühle mich wie ein Statist in einem schrägen Film, aber vielleicht ist das ja die berühmte Realität des Glaubens. Der Moderator kündigt für nächstes Wochenende einen Ball an und verspricht DJs und Speeddating. Dann ist das Spektakel zu Ende, ich hänge leicht erschlagen in meinem Stuhl.

«Mit homosexuell empfindenden Menschen befinden wir uns in einem Spannungsverhältnis.»

Als ich aufstehen will, tippt mir eine junge Frau auf die Schulter und fragt, ob ich das erste Mal hier sei. Ich schreibe nur einen Bericht, sage ich, aber sie heisst mich trotzdem willkommen, schön, hätte ich hergefunden und hoffentlich bis bald.

Es ist Nacht, als ich auf das Tram warte. Am Strassenrand liegen vereiste Schneehaufen, es ist kalt und ich denke, dass Nächstenliebe schon eine gute Sache sei – Musik machen, jenen helfen, die weniger haben, Freunde treffen und über Dinge reden, die einen beschäftigen. Nur was das mit Gott zu tun hat, habe ich nicht begriffen.

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Andy Clausen
10. Januar 2020 11:14

Eine Diskussion.
Ethik ohne Gott.
Eine Bewegung mit Scheinheiligkeit.
Dabei sein.

Sich wohlfühlen.
Als ein Fünftel.
Viele Leute sind gegangen.
Sektenähnliche Gemeinschaften.

spenden sammeln privat online
8. Juni 2023 13:03

Ausgezeichneter Artikel. Vielen Dank für Ihre Mühe. spenden sammeln privat online

Glöggli
15. Oktober 2023 10:28

Infosekta lesen!!!