Zwischen Armut und Aufbruch

Ausblick auf die Wolkenkratzer des Zentrums von Caracas vom Barrio San Agustín. Foto: Lucie Jakob

05. Mai 2022

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Mein Botschaftspraktikum hat mich an einen Ort verschlagen, der seit einigen Jahren kaum besucht wird: nach Caracas, die Hauptstadt Venezuelas. Seit 2014 befindet sich das südamerikanische Land in einer tiefen politischen, wirtschaftlichen und humanitären Krise. Ein Augenschein.

Vor knapp drei Monaten und nach gut 24 Stunden Reisezeit berührt mein Flieger venezolanischen Boden am Flughafen Maiquetía. Es ist 6 Uhr 30 in der Früh und schon beim Aussteigen aus dem Flugzeug schlägt mir ein Schwall warmer Luft entgegen. Was für ein angenehmer Kontrast zu den minus fünf Grad, die ich in Bern zurückgelassen hatte. Alle Passagiere müssen als Erstes für den obligatorischen Covid-Test antreten und verschiedenste Formulare, Covid-Zertifikate und Impfbescheinigungen vorweisen, und ich bin unheimlich froh, dass eine junge Venezolanerin meinen übermüdeten Kopf bei diesem ganzen Prozedere begleitet.

In der Gepäckhalle warte ich schliesslich auf meinen – viel zu schweren – Koffer und nehme die Schilder in Augenschein, die mir mitteilen, dass ich mich nun in einer sozialistischen Republik befinde. «Bin ja gespannt, wie der Sozialismus hier umgesetzt wird», denke ich mir. Nachdem mein Koffer endlich auf das Gepäckband ausgespuckt wird und ich die Einreisekontrolle hinter mich gelassen habe, werde ich von einem Chauffeur der Botschaft im gepanzerten Auto abgeholt. Diese VIP-Behandlung löst in mir ein etwas komisches Gefühl aus, aber da die Autobahn zwischen Maiquetía und Caracas als eine der gefährlichsten des Landes gilt und weder der öffentliche Verkehr noch Taxis sehr vertrauenswürdig sind, bin ich froh über den organisierten Transport.

Nach einer halbstündigen Fahrt erreichen wir die Aussenbezirke Caracas. Kleine Häuser aus Backstein, teilweise farbig gestrichen und eng nebeneinander gebaut, schmiegen sich an die Flanken des Hügels. «Das ist Catia, ein Barrio», erklärt mir der Chauffer. Barrios sind in Venezuela, wie ich später lernen werde, nicht einfach gewöhnliche Viertel im ursprünglichen Sinn des Wortes, sondern Favelas oder Slums. Caracas ist umgeben von diesen Barrios und Petare, das wenige Kilometer von meiner Wohnung entfernt liegt, ist eine der grössten Favelas Südamerikas. Je näher wir zum Zentrum gelangen, desto höher und ausgefallener werden schliesslich die Bauten; ich staune bereits jetzt über die architektonischen Zeugnisse dieser Stadt. Endlich in meinem Zuhause für die nächsten 10 Monate angekommen, werfe ich mich direkt aufs Bett, um ein paar Stunden zu schlafen, bevor mich mein zukünftiger Chef für eine kleine Runde durchs Quartier abholen wird.

Mindestlohn pro Monat: 30 Dollar

Mittlerweile sind knapp drei Monate vergangen und ich versuche immer noch, die Situation in diesem Land in all ihren Facetten zu erfassen. So ist beispielsweise in Caracas die wirtschaftliche und humanitäre Krise kaum mehr spürbar, zumindest in den Quartieren, in denen ich mich mehrheitlich bewege. Die Supermärkte sind wieder gut gefüllt (auch wenn teilweise die Marken der angebotenen Produkte von Woche zu Woche variieren), Restaurants haben wieder geöffnet und sind gut besucht und bei den Tankstellen muss nicht mehr während mehreren Stunden für Benzin angestanden werden. Es werden gar auffällig viele neue, superschicke Bars, Clubs und Restaurants eröffnet – um Geld zu waschen, wie bisweilen gemunkelt wird.

Dazu kommt das Phänomen der sogenannten Bodegones: Diese Edelsupermärkte bieten alle möglichen importierten Produkte an. Leisten kann sich das ein*e durchschnittliche*r Venezolaner*in jedoch nicht. Bereits die Preise in den normalen Supermärkten sind enorm hoch, ich musste bei meinem ersten Einkauf vor drei Monaten leer schlucken: Umgerechnet ca. 60 Franken bezahlte ich für Grundnahrungsmittel wie Pasta, Reis, Eier, Gemüse und Früchte. Zugegeben, ich wusste damals noch nicht, welches die günstigsten Produkte waren – da die Preise häufig nicht angeschrieben sind, ist das jedoch auch nicht ganz einfach – und weil es mein erster Einkauf im Land war, kaufte ich grössere Mengen.

Es werden auffällig viele superschicke Clubs und Restaurants eröffnet – um Geld zu waschen, wird gemunkelt.

Nichtsdestotrotz sind die Preise im Schnitt kaum tiefer als in einem Schweizer Supermarkt. Der Preis für die sogenannte «canasta básica», die Grundnahrungsmittel, die eine Familie von fünf Personen in einem Monat benötigt, wird auf beinahe 500 Dollar geschätzt. Dies bei einem vor kurzem von zwei auf dreissig Dollar erhöhten Mindestlohn für Staatsangestellte und mit einem Lohn zwischen ca. hundert bis vierhundert Dollar in der Privatwirtschaft.

«Meine Freunde sind überall auf der Welt verstreut»

Offensichtlich kann so niemand seinen Lebensunterhalt bestreiten. Als ich meine
venezolanischen Freund*innen auf die Problematik angesprochen habe, erklärten sie mir, dass die meisten Menschen deshalb mehreren Arbeiten nachgehen. Deutlich wird das bei einem Gespräch mit Fahrer*innen der Taxi-App «Ridery», das Uber-Äquivalent Venezuelas: Beinahe alle arbeiten als Taxifahrer*innen, um sich etwas dazuzuverdienen. Eine Fahrt mit einem Ridery kostet Minimum 2.70$ – das lohnt sich also allemal. Wirklich gut leben tun aber trotz mehrerer Jobs die wenigsten. Laut einer Statistik der venezolanischen Universität Andres Bello (staatliche Daten existieren nicht) lebten im Jahr 2021 94,5 Prozent der venezolanischen Bevölkerung in Armut und 76,6 Prozent gar in extremer Armut.

Caracas verfügt über einige architektonisch ausgefallene Gebäude, die vom vergangenen Glanz der Stadt zeugen. Im Bild das Edificio Parque Cristal. Foto: Lucie Jakob

Nicht grundlos haben bereits 6 Millionen Venezolaner*innen ihre Heimat verlassen, um in der Fremde eine bessere Zukunft für sich aufzubauen und ihre Familie besser unterstützen zu können. «Ich habe eigentlich keine Freunde mehr hier in Caracas», erzählen mir mehrere Bekannte, «alle sind überall auf der Welt verstreut. Im Moment habe ich zwar eine einigermassen anständige Arbeit hier, aber falls sich mir die Möglichkeit bietet, gehe ich auch.» Ein grosses Hindernis für die Ausreise stellt sich jedoch bereits ganz zu Beginn: Der venezolanische Pass ist der teuerste der Welt – er kostet umgerechnet ca. 200 Dollar. Gerade die weniger gut gebildeten Personen, die kaum Gelegenheit haben, solch eine Summe anzusparen, passieren daher die Grenze oftmals illegal und riskieren dabei ihr Leben.

Hoffnungsschimmer am Horizont

Die gute Nachricht auf wirtschaftlicher Ebene ist, dass zumindest die Hyperinflation aufgehalten wurde. Im Februar 2022 wurde die tiefste monatliche Inflationsrate seit 2014 festgestellt (2,8 Prozent). Dies ist insbesondere auf die informelle Dollarisierung der Wirtschaft zurückzuführen, die nach und nach auch von der Regierung akzeptiert wurde. Die Bolívares, die eigentliche Währung Venezuelas, sieht man – zumindest in Caracas – kaum mehr. «Stell dir vor, es gab mal Münzen – die habe ich schon seit einer Ewigkeit nicht mehr in der Hand gehalten», erzählt mir ein Freund. Nicht grundlos wurde mir vor meiner Abreise geraten, Dollars mitzunehmen – in kleiner Stückelung, da normalerweise kein Rückgeld gegeben wird. In den meisten Fällen bezahlt man jedoch mit der Kreditkarte in Bolívares.

Beinahe alle arbeiten als Taxifahrer* innen, um sich etwas dazuzuverdienen.

Dazu eine kleine Anekdote zum Leben in Venezuela, neben all diesen Zahlen: Bei meinem ersten Einkauf mit der Kreditkarte staunte ich nicht schlecht: Nachdem ich für die Abwicklung des Einkaufs zuerst mal meine Passnummer angeben musste (ja, für jeden Einkauf in egal welchem Geschäft hat man seine ID- oder Passnummer anzugeben!) und anschliessend meine Kreditkarte an die Kassiererin übergeben hatte, fragte mich diese nach meiner PIN. Ich war etwas verwirrt, diktierte sie ihr jedoch schliesslich zögerlich. Wie mich mein Chef später aufklärte, ist das völlig normal. Kreditkartenbetrug stellt überraschenderweise kein Problem dar – es lohnt sich schlichtweg nicht.

Für das nächste Jahr prognostizieren verschiedene Ökonom*innen zudem ein Wachstum für die venezolanische Wirtschaft, ein Novum seit acht Jahren des freien Falls. In Babyschritten versucht sich das Land also aufzurichten. Wie der venezolanische Ökonom Ricardo Villasmil ermahnt, muss dieses Wachstum jedoch relativiert werden. Um seine Aussage zu untermauern, bedient er sich einer eindrücklichen Metapher: Venezuelas Wirtschaft ist wie ein menschlicher Körper, der 80 Prozent seines ursprünglichen Gewichts (sagen wir 100kg) verloren hat und nun noch 20 Kilo wiegt. Auch wenn er nun wieder zwei Prozent zunimmt, wiegt er gerade einmal 22kg und ist immer noch weit entfernt vom Normalzustand.

Die eindrücklichen Tafelberge Roraima und Kukenán im Südosten des Landes. Foto: Lucie Jakob

Ein weiterer Grund zur Hoffnung für die gebeutelte Bevölkerung waren die im März abgehaltenen Gespräche zwischen der Regierung Maduros und einer Delegation hochrangiger US-amerikanischer Beamten. Wegen des Boykotts russischen Öls und Gas aufgrund des Ukrainekrieges strecken die USA die Fühler nach anderweitigen Versorgungsmöglichkeiten aus, unter anderem zur früheren Partnerin Venezuela. Biden hat jedoch nicht mit der heftigen Opposition im US-amerikanischen Parlament gerechnet, weshalb seit der Freilassung von zwei amerikanischen Gefangenen wieder Stillstand herrscht. Abgeschlossen ist dieses Kapitel allerdings wohl noch nicht, verschiedene amerikanische Ölfirmen wären interessiert an einer Konzession für Venezuela und üben Druck auf die Regierung Bidens aus.

Person vor Programm

Auf politischer Ebene sitzt die Regierung Maduros im Moment wieder fester im Sattel. Die Opposition hat es nicht geschafft, sich zu einen und so grössere Wahlsiege zu erringen. Einige Bundesstaaten konnte sie aber immerhin gewinnen – darunter zur grossen Überraschung der Regierung und internationaler Beobachter*innen den Heimatbundesstaat Chavez’, Barinas. Dies, obwohl die Wahl von der Regierung zuerst als ungültig erklärt wurde und die Wiederholung nicht unter gänzlich fairen Bedingungen stattfand. Was mir bei der Beobachtung der venezolanischen Politik ins Auge stach, war die starke Fokussierung auf Persönlichkeiten, die sowohl aufseiten der Regierung wie auch bei der Opposition zu erkennen ist. Es geht weniger um Programme einer Partei als um die Person, die diese führt.

So stehen eigentlich beinahe alle Oppositionsparteien für dieselben Veränderungen ein, allerdings wird eine Partei beispielsweise von Juan Guaidó und eine andere von Henrique Capriles geführt. Gewählte Politiker*innen sind dafür oftmals hauptsächlich damit beschäftigt, ihre Politik mit ihrem Namen zu verbinden – ein Extrembeispiel dafür ist der Chavista-Gouverneur des Staates Carabobo, Rafael Lacava, auch genannt «Drácula». Auf einer Reise in den Nordwesten des Landes passieren wir seinen Amtsbezirk und ich erkenne immer wieder das Symbol einer Fledermaus. Auf meine Nachfrage hin werde ich aufgeklärt, dass Lacava diese überall anbringen lässt und beispielsweise auch einem Platz (Plaza Drácula) und dem öffentlichen Transport (TransDrácula) ein «Drácula» im Namen verliehen hat.

Kostenpunkt? 0,06 Gramm Gold

Aus persönlicher – und etwas zynischer – Perspektive habe ich wohl einen der besten Momente erwischt, um in Venezuela zu leben: Die wirtschaftlichen und politischen Herausforderungen, mit denen das Land zu kämpfen hat, machen die Arbeit auf der Botschaft unglaublich spannend und gleichzeitig ist durch die sachte Erholung wieder einiges an Aktivitäten ausserhalb der Arbeit möglich. Kleinere Reisen an den Strand oder auch an etwas weiter entfernte touristische Orte wie die im Nordwesten liegende Halbinsel Paraguaná sind gar auf eigene Faust möglich, vorausgesetzt man verfügt über ein Auto und reist tagsüber.

Eine Plastikflasche Benzin kostet 0,06 Gramm Gold.

Mit organisierten Tours ist sogar der Besuch der aussergewöhnlichen Tafelberge im Südosten des Landes an der Grenze zu Brasilien möglich, ein Gebiet, das ansonsten grundsätzlich gemieden werden sollte. Während der Fahrt dorthin wird jedoch deutlich, wie gross der Unterschied zwischen Caracas und dem restlichen Land ist: Immer wieder passiert man heruntergekommene Dörfer mit verfallenen, halb begonnenen Bauten, in den Restaurants ist die Auswahl der Speisen sehr beschränkt und bei den Tankstellen steht man mindestens eine halbe Stunde Schlange.

Im weiteren Verlauf des Weges wird das Benzin schliesslich in Plastikflaschen auf der Strasse verkauft, angeschrieben ist der Preis mit 0,06. Allerdings sind damit nicht Dollar oder Bolívares gemeint, sondern Gramm Gold. Dies kommt daher, dass beinahe alle Menschen, die hier leben, in den legalen und illegalen Minen der Region arbeiten. Bolívares sind hier noch weniger begehrt als im Rest Venezuelas, akzeptiert werden Gold, Reais oder Dollar – in Reihenfolge ihrer Beliebtheit.

Baile el Reggaeton, Mami

In Caracas selbst ist das Nachtleben und die Kultur nach der Coronapandemie wieder erwacht. Im Ausgang ist es (unglaublich!) laut, aktiv und bunt, aus den Boxen dröhnt meist Reggaeton und später Bachata, dazwischen gern auch mal etwas Elektronisches. (Und ja, ich habe mich vom Reggaeton Fieber anstecken lassen – ich entschuldige mich bereits im Voraus bei meiner WG für die Playlist, die nach meiner Ankunft in unserer Küche in maximaler Lautstärke laufen wird…). Die Hauptstadt Venezuelas verfügt ausserdem über eine grosse LGBTI-Community, die den Widrigkeiten der grösstenteils konservativen Gesellschaft trotzt und verschiedenste Events organisiert. Auch die diplomatischen Anlässe können zu meinem Glück wieder stattfinden, von Konzerten in der ausgefallenen Freiluft-Konzertlocation Concha Acústica de Bello Monte über Filmvorstellungen im Rahmen des Holocaust-Erinnerungsmonats oder der Frankophonie bis zum klassischen Apéro in der Residenz der Schweizer Botschaft.

Die Concha Acústica im Südosten der Stadt Caracas. Foto: Lucie Jakob

Zu schaffen macht mir in Caracas einzig die eingeschränkte Bewegungsfreiheit – ohne motorisierten Untersatz kommt man eigentlich nirgends hin. Gerade abends auszugehen ist jedes Mal eine logistische Herausforderung. Wenn man Glück hat ist ein «Pana» (Freund*in) mit dem Auto dabei und man wird abgeholt, ansonsten muss man per Fahrdienst-App ein Taxi bestellen. Das ist natürlich absolut machbar und diese Aussage klingt wahrscheinlich furchtbar verwöhnt, und doch wird mir bewusst, wie wertvoll und simpel es ist, sich zu jedweder Zeit auf sein Velo schwingen und dorthin fahren zu können, wo man gerade Lust dazu hat.

Strom der Eindrücke

Es gäbe noch so viel mehr zu erzählen über Venezuela, gefühlt konnte ich in diesem Text nicht einmal die Hälfte meiner Eindrücke verpacken. Ich bin immer wieder überrascht, frustriert und beeindruckt von diesem Land; überrascht über die gefühlt aus dem Nichts auftauchende Wüste im Nordwesten des Landes, frustriert über die grosse soziale Ungleichheit in der Gesellschaft und beeindruckt von der Resilienz der Venezolaner*innen. Und jeden Tag kommen neue überraschende, frustrierende und beeindruckende Erlebnisse hinzu, der Strom der Eindrücke reisst nicht ab. Von einem kompletten Bild über Venezuela bin ich noch weit entfernt und wahrscheinlich werde ich es auch niemals erreichen, schliesslich bewege ich mich auch hier in einer bestimmten Bubble – so sehr ich mich auch bemühe, diese zu verlassen und möglichst alle Aspekte Venezuelas kennenzulernen.


Hinweis: Die Situation in Venezuela kann in diesem kurzen Artikel niemals komplett und in all ihren Facetten abgebildet werden. Er spiegelt meine persönlichen Erfahrungen und die Informationen, die ich im Rahmen meiner Arbeit sammle. Der Artikel stellt zudem nicht die offizielle Meinung der Schweizer Botschaft in Venezuela dar.

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Pedro
25. April 2023 2:06

Este foi o quarto artigo que acabei de ser relacionado a esse tem e foi o que mais deixou claro para mim. Gostei.
Rorai cap resultado