Zauberwald und Schweinefett

Die Infrastruktur ist vorhanden, aber verstaubt. Viel Arbeit wartet auf die zukünftigen Freiwilligen, um diese Räume als Schlafsäle, für Kunstprojekte und vielleicht einen Computerraum für die Dorfjugend frei zu machen. (Bild: Benjamin Herren)

03. Oktober 2021

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Eine Frau will ein Dorf wiederbeleben. Wir sind die Ersten, die ihr dabei helfen sollen. Erlebnisse aus Dognecea, Rumänien.

Es läuft nicht viel in Dognecea. Drei Männer in weissen Unterhemden trotzen der sich anbahnenden Mittagshitze unter wenig schattenspendenden Bäumen. Es ist Hochsommer in Rumänien. Runde Bäuche blitzen unter den Hemden hervor. Die Glatzen glänzen vom Schweiss.
Auf dem Spielplatz wippt ein Junge einsam auf einer Schaukel. Die Schaukel ist rostig und der Junge eigentlich zu alt für Schaukeln dieser Art.
Weiter vorne steht das Rathaus. Es fällt auf mit seiner gelben Fassade – ein fröhliches Gelb, das man eher an Kindergärten als an Rathäusern erwarten würde. «Politia» steht auf einem Schild neben dem Eingang. Einen wirklichen Polizisten hat Dognecea zwar nicht mehr, aber das Schild ist geblieben. Daneben hängen leblos zwei Flaggen, ausgebleicht im Vergleich zur bunten Fassade: Rumänien und die Europäische Union.

Frischer Wind in der Verwaltung

Eine stark geschminkte Frau lächelt hinter Schutzglas hervor, als Ami im Rathaus eintrifft. Ami arbeitet seit zwei Monaten hier, als Architektin ist sie für die Genehmigung von Bauvorhaben in Dognecea zuständig. Es gibt nicht allzu viele Bauvorhaben in der 2000-Seelen-Gemeinde, aber das stört Ami nicht. Im Gegenteil: Sie hat genug anderes vor mit diesem Dorf.

Aufgewachsen und wohnhaft in der Kleinstadt Bocsa, eine halbe Stunde schlaglochreiche Fahrt von Dognecea entfernt, ist Ami die einzige Gemeindemitarbeiterin, die nicht aus dem Dorf kommt. Die 36-Jährige hat ihren Job in der Gemeindeverwaltung einer grösseren Stadt kürzlich aufgegeben und stattdessen die Stelle in Dognecea angetreten. «Für mehr Freiheiten und weniger verfestigte Hierarchien», wie sie sagt. Jetzt ist es ihr erklärtes Ziel, dem Dorf neues Leben einzuhauchen. Helfen sollen ihr dabei Freiwillige, die sie über Internetplattformen wie «Workaway» nach Dognecea holen will. Benj und ich sind die ersten dieser Art. Also treten wir an diesem heissen Junimorgen hinter Ami ins Rathaus ein.
Ein Mann öffnet die Tür zu einem Büro, das mit «Primar» (rumänisch für «Bürgermeister») angeschrieben ist. Remus trägt ein kurzarmiges Karo-Hemd und ein Kreuz an einer Halskette, seine kurzen Haare sind anständig zur Seite gekämmt. Er ist Berater und ausführende Hand des Bürgermeisters von Dognecea.

 

Kaffee im Büro des Bürgermeisters: Tante, Remus, Jana, Ami, Martina (vlnr) (Bild: Benjamin Herren)

Staub angesetzt

Remus begleitet uns auf einer Tour durch verlassene Gebäude im Dorf. Da ist zunächst eine Art Gemeindesaal: In gutem Zustand, zuletzt jedoch nur vereinzelt für Hochzeiten genutzt. In den angrenzenden Räumen haben sich Dinge angestaut, die sonst nirgends mehr hinpassten: alte Bücher, Nähmaschinen, Schulmaterial. «In diesen Räumen sollen Schlafzimmer entstehen, um bis zu zehn Freiwillige beherbergen zu können», erklärt uns Ami.
Gegenüber steht eine alte Schule, die nach mehr als blosser Räumungsarbeit verlangt: Das Dach ist teilweise eingestürzt, die Böden morsch, von den Wänden bröckelt der Putz. Auch hier sind die Räume meterhoch mit altem Schulmaterial vollgestellt. Wir stöbern durch vergilbte Landkarten, kommunistische Flaggen, Dachziegel, Schwalbennester.
Ja, dieses Dorf hat Staub angesetzt, denke ich.

Die Führung quer durch die Gemeinde ist so ausgiebig wie Amis Ideen, die sie uns dabei unterbreitet: Ein Computerraum für die Dorfjugend, eine neue Bibliothek, ein Labyrinth im zugewachsenen Schulhof, die Restaurierung des alten Lebensmittelmagazins, Platz für Workshops aller Art. «Viel Infrastruktur wäre grundsätzlich schon da, wir müssen sie nur wieder zum Leben erwecken», meint die Architektin.
Wir beginnen bei den Schlafzimmern für Freiwillige, räumen Dinge von hier nach da. Herr Krispin kommt uns besuchen, der Vize-­Bürgermeister, ein grosser Mann mit tiefer Stimme. Er hält seine Zigarette zwischen Daumen und Zeigefinger, während er hilft, alte Schubladen aus dem Gebäude zu tragen und auf den Müll zu werfen. Am Ende des Tages ist ein Zimmer von seiner jahrelangen Funktion als Abstellkammer befreit. Stattdessen gibt es nun eine grosse Kiste mit einem lädierten Whitney-Houston-Poster und weiteren kuriosen Dingen, die später zu Kunst verarbeitet werden können. Jetzt müssen nur noch Betten her, für zukünftige Künstler*innen.

Badeplausch beim Bürgermeister

Am nächsten Tag nimmt uns Ami mit zur einzigen bestehenden touristischen Infrastruktur von Dognecea: Ein Restaurant und Gasthaus am kleinen braunen Stausee, mit Holzterrasse, Liegestühlen und Sonnenschirmen. Eine richtige Badi. Eigentümer ist der Bürgermeister.
Die Terrasse ist voll, die Musik aufdringlich laut und es werden rege Pedalos vermietet. Auf der einen Seite überbieten sich rumänische Jungen gegenseitig mit Rückwärtssalti, auf der anderen schubsen sich junge Roma-Männer gegenseitig ins Wasser und produzieren Wellengang. Auch junge Frauen sind da, von ihnen springen nur wenige ins Wasser. Viele liegen in bunten Bikinis auf den Liegestühlen, plaudern und rauchen. Etwas abseits, wo das Wasser knietief ist, sitzt eine voluminöse ältere Roma-Frau am Uferrand. Ihr bodenlanges Kleid klebt nass am Körper. Auch andere Frauen baden in langen Kleidern. In der Ferne entdecke ich Remus, der sein Karohemd gegen grüne Badehosen eingetauscht hat und uns lächelnd zuwinkt.

Wo auch immer wir sind, sprudeln neue Projektideen aus Ami hervor.

Dogneceas Bevölkerung ist, so wird uns erklärt, dreigeteilt: rumänisch, deutsch, Roma. Gold-, Eisen- und Kupferminen sollen schon im 18. Jahrhundert erste deutsche Siedler in das Bergbaudorf gelockt haben. Nach dem Ende des Kommunismus wurden die Minen in den 1990er-Jahren stillgelegt. Die Nachfahren der deutschen Auswanderer*innen sind noch heute da und messen ihrer Herkunft grossen Wert bei, ausgedrückt durch Sprache, Kultur und die Namen ihrer Kinder. Die deutsche und die rumänische Bevölkerung lebt vor allem im vorderen Teil des Dorfs, die Roma im hinteren. Gemeinsamer Treffpunkt: Die bürgermeisterliche Badi am Stausee.

 

Das satte Grün des Waldes vor Dognecea inspiriert zur künstlerischen und kulturellen Nutzung – vielleicht findet hier bald das nächste Musikfestival statt. (Bild: Benjamin Herren)

Der Zauberwald von Dognecea

Die Restaurierung der verlassenen Gebäude ist noch längstens nicht alles, was Ami mit Dognecea vorhat. Wo auch immer wir sind, sprudeln neue Projektideen aus ihr hervor.
An den Dämmen der beiden Stauseen könnten Kletterwände entstehen, in den stillgelegten Minen Kunstwerke aus Glas, auf einer Lichtung ein öffentlicher Campingplatz, am See neue Badestrände und vielleicht sogar ein Lift für Wasserskis. All das erklärt uns die quirlige junge Frau, während wir von einem Schauplatz zum nächsten spazieren.

Im Wald am Dorfeingang soll das Herzstück ihrer Vision entstehen: der «Magic Forest». Ein Zauberwald, wo dereinst Künstler*innen und Handwerker*innen ein magisches Gesamtwerk aus natürlichen Materialien, Lichtinstallationen und Malerei erschaffen sollen. «Und hier», sagt sie und deutet auf eine kleine Lichtung im zukünftigen Zauberwald, «hier könnte vielleicht irgendwann ein Musik-Festival stattfinden. Umgeben von Kunst im Wald. Amazing location, oder?».
Im Gemeindesaal wird derweil das Schlafzimmer vorbereitet für zwei Freiwillige aus Ägypten, die nächste Woche eintreffen sollen, ein Vater mit seinem neunjährigen Sohn. Auch Vater Michael soll in den nächsten Tagen vorbeikommen. Der Dorfpriester hat versprochen, beim Sortieren der alten Bücher zu helfen, die sich im Saal immer höher stapeln. Es scheint, als breite sich langsam eine leise Aufbruchstimmung im Dorf aus.

Im Wald am Dorfeingang soll das Herzstück ihrer Vision entstehen: der «Magic Forest».

Steuern erklären auf dem Flohmi

Am Freitagmorgen ist Markt in Dognecea. Um 8 Uhr ist das ganze Dorf auf den Beinen. An der Hauptstrasse ist Flohmarkt, auf einem kleinen Platz neben dem Rathaus werden Lebensmittel verkauft. Ein Mann, der alte Discmans, Telefone und Bügeleisen verkauft, spricht Ami an, nachdem er uns seine Waren feilgeboten hat. Aus seinem Portemonnaie kramt er ein gefaltetes Blatt Papier hervor und streckt es ihr hin: seine Steuerveranlagung. Er hat Ami offenbar als Mitarbeitende der Gemeindeverwaltung erkannt und greift die Gelegenheit beim Schopf. Sie erklärt ihm geduldig die Details der Verfügung, während Benj und ich an einem anderen Marktstand mit Käse, Gurken und Tomaten gefüttert werden.
Dann werden wir zum Kaffee eingeladen – ins Büro des Bürgermeisters. Dieser ist zwar in den Ferien, aber Remus bittet uns herein, zusammen mit seiner Frau Martina. Sie ist eine der deutschstämmigen Einwohnerinnen und spricht, obwohl in Dognecea geboren, fliessend Deutsch.
Das Büro ist prunkvoll: An einer goldenen Wand prangt das Wappen Rumäniens, wir setzen uns auf schwere Lederstühle um einen ovalen Tisch aus massivem, dunklem Holz. «Früher war’s hier drin nicht so schön. Das wurde alles neu gemacht letzten Herbst, als der neue Bürgermeister sein Amt antrat», erklärt uns Martina.

Martinas Tante, eine ältere Frau mit herzlichem Lachen und Salzburger Dialekt, stösst auch dazu. Sie ist in den Neunzigerjahren nach Deutschland gezogen und jetzt für einen Monat in ihrem Heimatdorf zu Besuch. Remus serviert Kaffee, während wir uns mit den beiden Frauen über die Geschichte von Dognecea unterhalten und darüber, dass immer mehr Menschen aus dem Dorf auswandern und nach Westeuropa oder zumindest in die Stadt ziehen, und dass die Leute Auto fahren wie die Henker, seit die Polizei nicht mehr im Rathaus stationiert ist.
Martina erzählt uns auch vom Deutschen Forum, in dem sich die Deutschstämmigen aus Dognecea regelmässig treffen, um Kekse zu essen oder Fasching zu feiern. Dann zeigt sie uns Fotos von alten Feuerwehruniformen. «Es gibt einen besonderen Feuerwehrhelm, der sich seit Generationen im Familienbesitz befindet, und an Ostern bewachen die deutschen Feuerwehrmänner in Dognecea traditionell das Grab von Jesus in der katholischen Kirche.»

Multikultureller Sonntagsspaziergang

Zwei Tage später sind wir wieder mit Martina unterwegs. Sie hat uns auf einen Ausflug zu den alten Minen eingeladen. Wir werden frühmorgens abgeholt von einem in die Tage gekommenen VW-Bus. Das Auto ist so voll besetzt, dass Benj und ich uns den letzten freien Sitz teilen müssen. Ein lauter Mix aus Deutsch, Rumänisch, Gelächter und Radiomusik begleitet uns in den Tag, während wir auf holprigen Wegen in den Wald hineinfahren. Am Steuer sitzt Klaus. Über seinen Fahrersitz ist ein Trikot des FC Bayern München gestülpt. Auch er ist deutschstämmiger Dorfbewohner.Auch Klaus’ Freundin Geta ist dabei, und sein älterer Bruder Lothar, und dessen noch etwas älterer Freund Doru. Martina und Remus teilen sich den Vordersitz mit ihrem jüngeren Sohn Paul, während der ältere Sohn David sich hinten neben Gili gezwängt hat, den grossgewachsenen, bärtigen Mann, der seit einem halben Jahr freiwillig jeden Morgen den Schulbus von Dognecea steuert.

Die Stimmung ist gut, als wir mitten im Wald Halt machen und das zweite Auto hinter uns einfahren sehen: Ami und ihr Freund Marti mit den frisch eingetroffenen Freiwilligen aus Kairo. Abdou, der Vater, hat tiefschwarze Locken und grüsst uns händeschüttelnd. Sein Sohn Ouais ist neun Jahre alt, hat rote Haare und Sommersprossen und unterhält sich unterdessen mit Gili auf Rumänisch. Ich bin etwas verwirrt, bis ich erfahre, dass Abdou eine Rumänin geheiratet hat und Ouais der älteste Sohn aus dieser Ehe ist.

Wir erkunden mit Taschenlampen das eindrückliche Resultat eines Goldrausches vergangener Generationen.

Picknick und Höhlen­forschen

Die Gruppe setzt sich in Bewegung, wir wandern tiefer in den Wald hinein. Klaus hat ein Messer an seinen Gürtel geschnallt («Es hat hier viele Wildschweine»). Doru führt einen beachtlichen Vorrat an Schnaps mit sich, den er gerne mit allen Anwesenden teilt. Es wird laut gesprochen, laut gelacht, scherzhaft darüber debattiert, wo denn jetzt der Eingang der Minen sei. Wir finden ihn nicht auf Anhieb («Immer dasselbe, wenn man mit Remus unterwegs ist, immer verläuft der sich»), irren kurz durchs Unterholz und finden ihn schliesslich doch.

 

Doru mit Schnaps vorne, dahinter Martina, David ganz hinten. (Bild: Benjamin Herren)

 

Noch immer kommen fast täglich Menschen hierher, um letzte Vorkommnisse von edlen Materialien aus den Felsen zu extrahieren. Wir erkunden mit Taschenlampen das eindrückliche Resultat eines Goldrausches vergangener Generationen: mehrstöckige Tunnelsysteme im nasskalten Felsen, eingestürzte Gänge, vermoderte Holztrassees. Mit Ami spinnen wir Ideen von Glasmosaik an den Wänden, Kristall-Workshops und Konzerten im Hauptgang der Mine.
Später wird gepicknickt. Ich bin schon satt, da wir in meinen Augen bereits vorher gepicknickt haben (Sandwiches, Tomaten, Gurken vor dem Mineneingang), aber ich lerne, dass dies noch kein richtiges Picknick war: In Windeseile wird ein Feuer entzündet, werden Decken ausgebreitet, Stöcke angespitzt, darauf fein säuberlich grosse Scheiben Schweinefett aufgespiesst, Tomaten, Gurken, Zwiebeln, Käse und Brot ausgepackt, das Fett über dem Feuer gebraten, dazu Schnaps herumgereicht. Als ich nur zögerlich zugreife, sagt Geta in bestimmtem Ton: «Jana, essen!»

«Klaus war der DJ»

Zurück im Dorf besuchen wir das Deutsche Forum. Nostalgisch ist es da, mit einer beeindruckenden Sammlung an historischen Zeugnissen der deutschen Vergangenheit in Dognecea. Lothar und Martina zeigen uns alte Feuerwehruniformen, Fotos vom jährlichen Fasching (Lothar trägt jedes Jahr dasselbe Kostüm, einen farbigen Poncho), alte Briefe, die Disco im Keller, wo sie als Jugendliche die Nächte durchgetanzt haben. Sprüche wie «genug getrunken, ab jetzt wird so richtig gesoffen» prangen handgeschrieben an den Wänden. «Und Klaus war der DJ», sagt Martina. Alle lachen, und ihre Augen erzählen von der Schönheit geteilter Erinnerungen und der Wehmut über die Vergänglichkeit langer Nächte. «Ja, das waren noch Zeiten.»

Auf der Terrasse des Forums erzählt mir Martina, dass die Mehrheit der deutschstämmigen ihrer Generation wieder nach Deutschland gezogen ist. Derweilen wird grosszügig Bier ausgeschenkt, die Gespräche werden lauter und die Stimmung ausgelassener. Etwas abseits diskutiert Abdou, der als gläubiger Muslim keinen Alkohol trinkt, mit Marti über den Propheten Mohammed. Sein Sohn Ouais verabredet sich mit Remus’ und Martinas Sohn David zum Fussballspielen. Ami schreibt auf ein Blatt Papier eine lange To-Do- und Ideen-Liste, die von den anderen Anwesenden laufend und eifrig ergänzt wird: Bücherregale befestigen, ein Salzbad im Keller des Gemeindesaals, einen Stauraum für Material organisieren, ein Baumhaus, Gewächshäuser aus alten Fenstern, diamantförmige Wegweiser, Insektenhotels, Mountain-Bike-Trails, Schaukeln im Wald. Die Arbeit geht in Dognecea so schnell nicht aus.

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