Tanz mal deinen Namen

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Tanz mal deinen Namen

20. Oktober 2016

Von und

Bäume umarmen, zum inneren Gleichgewicht finden, seinen Namen tanzen – die Klischees über den anthroposophischen Nachwuchs sind bekannt. Aber was wird an Steiner Schulen genau gelehrt? Ein Erkundungsversuch.

Aruna Rey, Lehrerin der zweiten Klasse an der Rudolf Steiner Schule in Steffisburg, begrüsst mich mit einem freundlichen Händedruck. Einige Kinder sind schon da und klettern auf einem selbstgebauten Parcours herum. «Wir haben keine Stühle, aber du darfst es dir gerne irgendwo hier vorne auf dem Boden gemütlich machen», meint sie. Und: «Jetzt, wo bald Herbst ist, haben sie viel Energie, darum der Parcours.» Als der Klang eines kleinen Gongs ertönt, der den Unterrichtsbeginn einläutet, räumen die Kinder gemeinsam den Parcours weg und bilden aus Bänken einen Kreis. Ich werde auch eingeladen, mich dazuzusetzen. Eines der Kinder darf eine Kerze anzünden, danach stehen alle auf, machen ein paar kurze Entspannungs- und Atmungsübungen und rezitieren schliesslich zusammen das Gedicht «Der Sonne liebes Licht». Von der ersten bis zur vierten Klasse wird dieses Gedicht jeden Morgen gesprochen. Ab der fünften Klasse wechselt das Gedicht: «Ich schaue in die Welt» stellt bis zur zwölften, der letzten, Klasse das Morgenritual dar. Wie mir Aruna Rey in der Pause erklärt, hat die Auswahl der Gedichte mit dem Entwicklungsstand der Kinder zu tun. Wenn sie jünger sind, brauchen sie mehr Geborgenheit und sind noch mehr auf sich selbst bezogen. Je älter sie werden, desto mehr geht ihr Blick nach aussen, in die Welt. Beide Gedichte stammen aus der Feder von Rudolf Steiner.

Zeugnisspruch, keine Noten

Nach dem Aufsagen der Gedichte wird in verschiedenen Sprachen gezählt: Deutsch, Englisch und Französisch. Wir gehen im Kreis und zählen gleichzeitig oder steigen auf die Bänke und wieder herunter. Die Kinder sind engagiert dabei, auch wenn das Prinzip «ein Schritt, eine Zahl» nicht ganz von allen verstanden wird. Macht auch nichts. Diese Aussage werde ich noch öfter in Zusammenhang mit dem Unterricht in der Steiner Schule hören, denn das Wichtigste sei, dass die Kinder selbst die Zusammenhänge erkennen. Wie schnell sie dies tun, ist zu einem grossen Teil nebensächlich. Aruna Rey sucht vor Beginn des «Epochenunterrichts» noch drei Kinder aus, die ihren «Zeugnisspruch» aufsagen dürfen. Den Zeugnisspruch erhalten die Kinder an Stelle von Noten. Alle sind ganz erpicht darauf und fallen fast von den Bänken, so weit strecken sie ihrer Lehrerin die kleinen Finger entgegen. Das Ziel sei, obwohl man in der Steiner Schule nicht gerne von Zielen spricht, dass sie den Zeugnisspruch auswendig können. Wenn nicht, macht das aber auch nichts.

«Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht»

Danach beginnt der «Epochenunterricht», was bedeutet, dass während drei bis vier Wochen am selben Thema gearbeitet wird. In der Woche meines Besuchs ist Mathematik an der Reihe, und zwar der Zahlenraum von eins bis hundert. Aruna Rey teilt den Kindern in Zweier- oder Dreiergruppen je eine Reihe zu, die diese dann mit einem Bewegungsablauf, beispielsweise mit Klatschen, kombinieren und anschliessend vorzeigen. Das Ganze ist sehr spielerisch gestaltet, langweilig wird es nicht. Den Kindern scheint es ähnlich zu gehen, sie wirken auf mich noch so konzentriert wie zu Beginn des Tages. «Ich bin etwas streng mit ihnen, denn wenn ich es nur vorsage, werden sie es nie lernen», meint Aruna Rey.

Eine Plattform zum Lernen

Für mich ist dieser Morgen ein spannender Einblick. Um noch mehr allgemeine Informationen und Hintergründe zu erhalten, spreche ich mit Martin Carle, ebenfalls Lehrer an der Steiner Schule in Steffisburg. «Zentral an der Philosophie der Steiner Schule ist, dass die Kinder nicht einen Lehrplan aufgedrückt bekommen, sondern dass sich der Unterrichtsinhalt an den Kindern orientiert», erklärt er mir. Von den LehrerInnen wird also nur die Plattform zum Lernen geboten, die Kinder können selbst herausgreifen, was sie möchten. «Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht», fügt Martin Carle an. Dies bringt mich zu dem häufigen Vorurteil, dass Steiner Schüler nach Ende ihrer Schulzeit nicht aufs spätere Leben vorbereitet seien. Ich frage Martin Carle, was er dazu meint: «Unsere Schüler erhalten ein stabiles Fundament und ein gutes Selbstbewusstsein durch die Art, wie wir den Lernprozess und das gesamte Umfeld gestalten. Deshalb sind sie auf die späteren Herausforderungen im Leben gut vorbereitet.» Ursprünglich sei die Steiner Schule eine Institution für Arbeiterkinder gewesen, heute stammten die meisten Kinder aus Familien mit akademischem Hintergrund, wie mir Martin Carle erzählt. Dies liegt einerseits an den Kosten, 800 bis 1000 Franken bezahlen Eltern pro Monat, um ihr Kind an die Steiner Schule schicken zu können. Es gibt jedoch Fonds, die Eltern mit kleinerem Budget unterstützen, erklären mir Schülerinnen und Schüler später. Dass sich an Steiner Schulen viele Kinder studierter Eltern finden, erklärt sich Martin Carle aber auch damit, dass sich Letztere bewusster mit der Ausbildung ihres Nachwuchses auseinandersetzten.

Gegen das Konzept der Staatsschule

Mit vielen neuen Informationen verabschiede ich mich. Eine wichtige Perspektive fehlt noch: Was sagen ehemalige Steiner Schüler zu ihrer Schulzeit und den gängigen Vorurteilen?

Mit Ausnahme einer Person berichten alle von einer sehr positiven Zeit an der Steiner Schule. T. S. hat vor ungefähr dreissig Jahren die Rudolf Steiner Schule Ittigen besucht und eher unerfreuliche Erfahrungen gemacht: zu grosse Klassen, überforderte LehrerInnen, Verbot von Fussball und Fernsehen, kaum Platz für freies Arbeiten, obwohl die Kreativität immer betont wurde. «Der Epochenunterricht und der frühe Beginn von Fremdsprachen waren jedoch definitiv positiv», meint er. Auch dass schon von klein an die Präsentation vor anderen geübt wurde, sei es durch Vorträge oder Theater, empfand er als sehr hilfreich. In diesem Punkt sind sich interessanterweise alle Befragten einig, auch wenn sie zu ganz anderen Zeiten die Steiner Schule besucht haben. «Vielleicht sind wir schulisch gesehen nicht so gut vorbereitet, aber wir sind vorbereitet aufs Menschsein», drückt es einer meiner Interviewpartner aus.

«Vielleicht sind wir schulisch gesehen nicht so gut vorbereitet, aber wir sind vorbereitet aufs Menschsein»

Als ich nach den Gründen frage, wieso ihre Eltern sie auf die Steiner Schule geschickt haben, fällt die Antwort recht einhellig aus: Das Konzept der Staatsschule habe ihnen nicht gefallen und sie entschieden sich nach der Besichtigung verschiedener Varianten für die Steiner Schule. Steiners Erziehungsphilosophie überzeugte sie, denn gerade der Leistungsdruck, die Einstufung der SchülerInnen und der Notendruck fallen weg, was für die meisten Eltern die grössten Kritikpunkte am staatlichen Schulsystem waren. «Klar gab es auch Leute, die von der Staatsschule geflogen sind und dann zu uns kamen, weil sie sonst nirgends mehr aufgenommen wurden. Das waren aber wenige.» Also doch alles alternative Hippies? «Die Steiner Schule verlässt wohl niemand als rechter Politiker», meint einer meiner Interviewpartner. Die meisten SchülerInnen und Eltern sind jedoch keine eingefleischten AnthroposophInnen und Steiner-AnhängerInnen. In der Pause war auch gar nichts mit Bäume umarmen: «Wir hatten jeweils viele Schlägereien zwischen Älteren und Jüngeren», erinnert sich ein Ehemaliger.

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