Jazz für alle

Neben den prestigeträchtigen Jazzlokalen von Bern versteckt sich im Mattequartier ein kleines Lokal. Das Ziel der Betreibenden ist Jazz sowohl für die Musizierenden als auch fürs Publikum niederschwellig zu halten.
Der frühlingshafte Himmel trügt, denn ein kalter Wind zieht durch die Gassen der Matte, als wir uns auf den Weg ins 5ème Etage machen. Von aussen wirkt das alte Gebäude am Mühlenplatz unscheinbar, doch als wir den Lift im fünften Stock verlassen, wird uns direkt klar: Das hier ist ein besonderer Ort. Das violette und rote Licht reflektiert in den Biergläsern über der Theke und in jeder Ecke gibt es etwas zu entdecken: Instrumente, Schallplatten, alte Filmkameras oder die projizierte Mikroskopaufnahme einer Zelle, die sich gemächlich im selben Takt wie die Discokugel dreht. Noch sind die meisten Plätze frei und das Risotto wird fertig gewürzt, doch schon in einer Stunde wird der Raum voll sein mit Menschen, Stimmengewirr und Gelächter und den ersten Pianoriffs. Der Tuesday Jam geht in die nächste Runde.
Normalerweise würde ich solch einen Dienstagabend wohl zuhause verbringen. Seit mir mein Algorithmus jedoch vor ein paar Wochen ein Video vom Tuesday Jam zugespielt hat, geht mir die Sache nicht mehr aus dem Kopf. Das Konzept: Jazz und Risotto für fünf Franken. Klingt zu gut, um wahr zu sein? Das dachte ich mir auch, also machten wir uns an einem Dienstagabend mit Notizbuch, Kamera und einer guten Portion Hunger im Gepäck auf den Weg zum Mühlenplatz.
Am Mühlenplatz zuhause
Der Tuesday Jam als Verein feierte diesen Februar seinen 14. Geburtstag. Doch bereits vor der Vereinsgründung im Jahr 2011 ebneten Musiker*innen und Kulturveranstaltende den Weg für die Jamsessions in ihrer heutigen Form. Klaus Widmer, einer der Gründer des Kulturvereins und noch heute dessen Präsident, erzählt von einigen Anfängen und Enden, die dem Tuesday Jam vorausgegangen sind. «Bereits 1997 wurden ich und weitere Musiker von den Betreibern der Silobar, damals einquartiert im ersten Stock des Hauses am Mühlenplatz, angefragt, ob wir Jazz spielen wollen. Ich hatte damals gerade mein Studium an der Jazz-Schule in Bern abgeschlossen und als Saxofonist in vielen Bands gespielt. Das Jammen fand ich schon immer besonders spannend, gerade weil es so unplanbar ist.»
Nach mehrmaligen Überschwemmungen der Matte zu Beginn der 2000er Jahre hätte das Lokal jedoch schliessen müssen. Es folgten mehrere Jahre mit ähnlichen Projekten und zahlreichen Umzügen. Aus reinem Zufall sei er schlussendlich doch wieder auf das Haus am Mühlenplatz gestossen. «Ich konnte dort einen Proberaum mieten und habe dann Ulrico Pfister getroffen, weil ich ständig dort war.» Ulrico Pfister, der heutige Inhaber des Kulturlokals 5ème Etage, hatte den fünften Stock frisch übernommen, nachdem das Schwulen-Begegnungszentrum anderLand ausgezogen sei. Nun gab es die Idee und auch endlich wieder einen Ort dafür: Dem Tuesday Jam stand nichts mehr im Wege.
Laut Klaus Widmer hat sich das Ziel des Projekts über die Jahre hinweg kaum verändert: Es bietet eine Plattform für Menschen, die musikalisch miteinander kommunizieren und sich ausprobieren möchten. Das sei ihnen als Verein wichtig. «Der Tuesday Jam ist kein Konzertort, sondern soll niederschwellig sein, auch für die Musizierenden. Es soll keine Vorbereitung oder ein fixes Repertoire nötig sein. Die Leute sollen kommen, weil sie Lust haben, mit anderen Musik zu machen und Dinge auszuprobieren, die man sonst vielleicht nicht spielt.»
Von 1 zu 12 kg Reis
Das 5ème Etage füllt sich rasch. Mir fällt sehr schnell auf, dass das Publikum überraschend jung ist. Hat der Instagram-Algorithmus wie bei mir ausgezeichnete Arbeit geleistet? Ist Jazz bei jungen Leuten doch weniger nischig als gedacht? Oder sind es vor allem die niedrigen Preise, die auch den sparsamsten Studi überzeugen, abends wieder einmal in den Ausgang zu gehen? «Das Publikum ist schon immer durchmischt gewesen, doch der Anteil junger Menschen ist heute viel grösser als früher. Das ist umso erfreulicher, als dass das Publikum an vielen Jazzkonzerten von der Altersstruktur her eher in die andere Richtung ausschlägt», erzählt Klaus Widmer. Dieser Meinung sind auch Leute im Publikum: «Aufgrund des niedrigen Altersdurchschnitts ist die gesamte Stimmung lockerer und offener als an anderen Jazzkonzerten, die ich kenne», meint eine Besucherin, die zum ersten Mal den Tuesday Jam besucht.
«Es ist schön zu sehen, dass Jazz nicht nur ein grauhaariges Publikum erreicht», witzelt ein älterer Herr mit grauen Haaren.
Er habe auch schon selbst hier am Tuesday Jam gespielt. Umso mehr freue er sich, wenn auch jüngere Musiker*innen auf der Bühne stünden und den Jazz in einer neuen Generation weiter tragen würden. Dass es nicht immer so voll gewesen sei, kann auch er als langjähriger Besucher bestätigen. Die Tische sind längst alle besetzt, doch noch immer strömen neue Menschen in den Raum und lassen sich zwischen Stühlen und Bänken nieder. Sogar auf dem Boden unter dem Flügel hat sich jemand ein Plätzchen ergattert.
Von WG-Mitbewohner*innen über Arbeitskolleg*innen bis hin zum erweiterten Freundeskreis: Der Anteil von Mund-zu-Mund-Propaganda als Werbung für den Tuesday Jam ist sehr gross. Die meisten Besucher*innen erwähnen, dass sie über andere Leute auf die Jamsessions gestossen sind. Der Verein selbst mache nur wenig Werbung, gerade deshalb sei man über die enorme Publikumsentwicklung der letzten Jahre etwas überrascht, so Klaus Widmer. «Das ist eine Eigendynamik, die wir selbst nicht so richtig verstehen. Natürlich wollten besonders nach der Pandemie die Leute wieder ausgehen und Kultur geniessen, doch mit einer Stabilisierung auf solchem Niveau haben wir nicht gerechnet.» Zu Anfangszeiten des Tuesday Jams fanden höchstens 20-30 Personen ihren Weg ins 5ème Etage, die Musizierenden miteingerechnet. Mittlerweile würde Ulrico Pfister und seine Küchencrew für etwa 120 Personen kochen.
Oftmals würde noch Pasta nachgekocht, wenn das Risotto alle ist. Und: jeden Dienstag sind es etwa 40 Personen, die nicht mehr ins 5ème Etage eingelassen werden. «Es ist uns überhaupt nicht recht, dass wir Leute wegschicken müssen. Aber schon allein wegen der polizeilichen Grenze müssen wir das machen. Ich bin mir aber sicher, dass sich die Besuchendenzahlen sowieso wieder nivellieren werden. Deshalb geniessen wir es, solange es so ist und dass es so viel Zuspruch gibt.» Wirklich damit gerechnet hätten sie zu Beginn nicht, gibt Klaus Widmer zu.
«Ich finde es erstaunlich, dass wir es überhaupt so lange machen konnten. Wir haben immer wieder Leute gefunden, die bereit waren, da mitzuziehen.»
Die hohen Besuchendenzahlen sind auch Grund dafür, warum die Preise angepasst wurden. Zu Anfangszeiten waren sowohl Eintritt als auch Abendessen kostenlos. Mittlerweile bezahlt man neben dem Eintritt auch 5 Franken für das Risotto. «Das ist mehr ein symbolischer Preis, damit diese Arbeit auch wertgeschätzt wird. Bei den 12 Kilo Reis, die mittlerweile pro Woche gekocht werden, ist der Aufwand natürlich deutlich grösser.» Ulrico investiere jeden Dienstag etwa zehn Stunden um einzukaufen, vorzubereiten und zu kochen.
‘Round Midnight
Gegen 21 Uhr lässt das Treiben an der Bar ein wenig nach. Für Nachzügler*innen wird noch Pasta in grossen Töpfen gemacht, die ich sonst nur aus Lagerküchen kenne. Die zahlreichen Besucher*innen holen sich ein weiteres Bier und suchen sich, zugegebenermassen eher vergeblich, einen Sitzplatz für den Rest des Abends. Langsam tröpfeln die ersten Musiker*innen auf der Bühne ein, die Instrumente werden gestimmt und das Publikum wartet gespannt drauf, was folgen wird. Denn das weiss man bei einer Jam-Session schliesslich nie so genau. Zunächst betritt Matthieu Trovato die Bühne, ein weiteres unverzichtbares Gesicht hinter dem Tuesday Jam. Als Vorstandsmitglied ist er für die Abendbetreuung der Musiker*innen zuständig und begrüsst das Publikum Woche für Woche mit einem breiten Lachen und der Frage, wer denn heute zum ersten Mal da sei. Tatsächlich sind es nicht gar so viele Hände, die in die Luft gehen. Der Tuesday Jam scheint durchaus seine treuen Stammgäste zu haben, welche auch dableiben, wenn bereits der letzte Sitzplatz weg ist. «Ihr könnt gerne auch hier hängen», meint Matthieu verschmitzt und zeigt dabei in die unterschiedlichsten Ecken des Raumes. «Danke, dass ihr hier seid, es fägt mega!» Damit ist die Bühne frei für das erste Jam-Trio. Pianoriffs und Basslines füllen den Raum und schon bald wippt das ganze Publikum mit Füssen und Köpfen. Matthieu hat recht: Es «fägt» wirklich.
Ein wenig überrascht bin ich schon, angesichts der Tatsache wie gekonnt das Ganze klingt. Die drei Musiker wirken sehr eingespielt und scheinen ohne Worte bestens miteinander zu kommunizieren. Es fällt mir schwer zu glauben, dass der Auftritt tatsächlich nicht im Vorhinein geprobt wurde. Aber genau dieses Improvisieren und aufeinander Eingehen macht eine Jam-Session aus.
Klaus Widmer lächelt, als ich ihn darauf anspreche. «Es freut mich, dass du das sagst. Viele der Leute hier haben ein sehr hohes Niveau. Das liegt sicher auch daran, dass wir hier in Bern die älteste Jazzschule Europas haben, die Studierende anzieht und ausbildet.» Besonders bei den Rhythm Sections falle ihm dieses Können auf. «Dennoch passieren natürlich immer Fehler, nur bemerkt man sie meistens nicht, weil sie elegant aufgefangen werden. Zum Beispiel passieren Formfehler oder es werden mit zwei unterschiedlichen Tonarten begonnen. Das gehört dazu und ist überhaupt kein Problem. Es geht nicht darum, perfekt zu sein, sondern etwas zusammen entstehen zu lassen.» Er gibt jedoch auch zu, dass es Momente gebe, in denen eine Person, die den Lead übernimmt, unabdingbar sei.«Für das Jammen braucht es nicht nur musikalische Kompetenzen, sondern auch die Eigenschaft, sich in eine Band einzufügen und sich zurückzunehmen, aber auch im richtigen Moment nach vorne zu treten. Das können nicht alle gleich gut. Gerade bei Personen, die noch nicht so viel Erfahrung haben, fehlt diese Selbsteinschätzung ein wenig. Dann muss man regulieren», so Klaus. Dies geschehe jedoch sehr diskret und von der Bühne werde niemand geschickt. Im Regelfall klappe das Ganze sowieso sehr gut.
Neben vielen bekannten Jazzinstrumenten wie die Hammond-Orgel finden auch immer wieder «untypische» Instrumente ihren Weg ins 5ème Etage, so zum Beispiel eine Oboe, Geigen oder ein Vibraphon. «Eigentlich kann jeder, der einen Blues spielen kann, auch mitmachen. Dafür braucht es kein typisches Jazz-Instrument. Diese Abwechslung ist sicherlich auch ein Geheimnis dieses Formats.
Die Leute lieben Überraschungen – und wir auch.
Das Ganze entsteht durch etwas, was man überhaupt nicht planen kann. Deshalb ist der Überraschungseffekt schon gross.»
Die erste Stunde ist jeweils für das Trio reserviert, welches sich im Vorhinein angemeldet hat. Danach öffnet sich die Runde und Personen aus dem Publikum können sich auf der Bühne ausprobieren. Soeben wird das nächste Stück angekündigt: «‘Round Midnight», ursprünglich von Thelonious Monk, ist einer der Jazz-Klassiker, der vielen Leuten bekannt vorkommt. Klaus erzählt mir, dass es sich mittlerweile ergeben habe, dass gewisse Standard-Stücke gespielt würden. «Es ist nicht zwingend, aber deutlich einfacher für die, die mitmachen wollen. Denn ein unbekanntes Stück zu improvisieren, ist zwar nicht unmöglich, aber definitiv sehr anspruchsvoll. Deshalb werden in der Regel Stücke genommen, die sowohl Profi-Musiker*innen als auch Amateur*innen kennen.»
Ein Blick zurück, ein Blick nach vorne
Dass viele Kulturbetriebe seit der Corona-Pandemie am krieseln sind, ist nicht neu. Insbesondere meine Generation scheint den Gefallen am Ausgang irgendwie verloren zu haben (wir berichteten in unserer letzten Ausgabe darüber). Beim Tuesday Jam ist das Gegenteil der Fall: Nicht nur die Besuchendenzahlen sind auf einem Langzeithoch, sondern das Projekt spricht auch ein auffallend junges Publikum an. Von Pandemie-Nachwirkungen also keine Spur. «Da bei uns sowieso keine kommerziellen Ideen dahinterstehen, waren die Verluste natürlich deutlich kleiner als bei anderen Unternehmen, die viel höhere Personalkosten haben. Da kommt uns die Organisation als Verein entgegen: Durch diese ehrenamtliche Arbeit wird vieles möglich, was sonst gar nicht ginge» Lediglich Ulrico habe mit seinem Etage natürlich Verluste gemacht, da viele Kosten fix waren, die Einnahmen jedoch weggefallen sind.
Und wie geht es weiter mit dem Tuesday Jam? Konzeptuell seien keine grossen Veränderungen vorgesehen, so Klaus Widmer. Organisatorisch müsse sich dennoch etwas verändern, da die Berner Kulturstrategie neuerdings eine höhere Gage für Musiker*innen festlegt. Diese Vorgabe müssen alle Veranstaltenden erfüllen, die Unterstützungsbeiträge der Kulturstadt Bern empfangen, was beim Tuesday Jam der Fall ist. Da dem Verein seine Nicht-Kommerzialität jedoch am Herzen liegt, gestalten sich solche höheren Gagen schwierig: «Da wir kein regulärer Konzertort sind, ist es für uns sehr schwierig, die Leute so zu bezahlen. Auch weil oft nicht klar ist, wem wieviel gezahlt werden soll, da an einer Jam-Session Personen beteiligt sind, von denen man im Vorhinein nichts weiss. Für das, was wir machen, gibt es keine richtige Schublade. Deshalb sind wir jetzt auf Lösungssuche mit der Stadt Bern.»
Klaus scheint jedoch zuversichtlich zu sein, dass eine solch passende Lösung gefunden werden kann. Auch, weil der Tuesday Jam auf langjährige und etablierte Partner wie BeJazz oder das Buskers Festival zählen kann. Das Buskers ist gerade deshalb so wichtig, weil sie dem Tuesday Jam jedes Jahr die Möglichkeit bietet, eine Bar zu betreiben. Nebst den Vereinsmitgliederbeiträgen und einem Fundraising-Projekt sei die Bar am Buskers Festival eines der drei wichtigsten Standbeine, die das Bestehen des Vereins finanziell ermöglichen. «Wir wollten als Kulturverein eine Bar betreiben, bei welcher jeder Franken auch wieder zurück in die Kultur fliesst. Das war quasi unser Motto, als wir damals mit der Idee einer Bar auf das Buskers zugegangen sind.» Aber auch dort ist klar: Ohne Freiwilligenarbeit würde dieses Projekt nie funktionieren.
Dienstag ist Jazz-Tag
Der Abend wird älter und langsam leeren sich die ersten Tische. Ich blicke in zufriedene Gesichter: Der Bauch voll mit Risotto, die Ohren voll mit Jazz-Musik und das Herz voll mit guter Gesellschaft. Mein Fazit des Abends: Ich möchte wiederkommen und diesen Ort auch anderen Menschen zeigen. Dem Publikum scheint es nicht anders zu gehen: «Ich war heute zum ersten Mal da und höre sonst eigentlich keinen Jazz, aber die Sache hat mich sehr überzeugt. Die gesamte Atmosphäre ist so toll und gemütlich. Mir fällt gerade nichts hier in Bern ein, dass ich vom Konzept und der Umsetzung vergleichbar finde», erzählt mir einer der Besucher. Sein WG-Mitbewohner, der in überhaupt erst ins 5ème Etage geschleppt hat, sitzt grinsend daneben. «Abgesehen von der Atmosphäre ist natürlich auch der Preis unschlagbar. Du kommst mit 15 Franken durch den Abend, hast gegessen, getrunken und noch Live-Musik gehört. Das findest du doch sonst kaum noch», ergänzt er. An einem anderen Tisch unterhalten sich zwei Freundinnen darüber, wie sehr sie es schätzen, dass so etwas auch an einem gewöhnlichen Wochentag stattfindet. Als Nicht-Stadtkind, die auch nicht aus Bern kommt, geht es mir ähnlich: Dass unter der Woche überhaupt etwas los ist, daran bin ich nicht gewöhnt. Umso mehr schätze ich Orte wie das 5ème Etage mit seinem Tuesday Jam, die eine niederschwellige Ausgangsmöglichkeit für alle bieten.
Der Schlagzeuger wechselt noch einmal, denn der Abend ist noch nicht vorbei. Doch wir leeren unsere Getränke und machen uns langsam auf den Weg nach draussen. Für heute Abend haben wir genug gesehen, gehört und geschmeckt. Auf dem Nachhauseweg begleiten uns die Jazzklänge aus den geöffneten Fenstern noch lange über die Dächer der Matte hinweg.
Text: Tabea Geissmann
Bilder: Victoria Habermacher