Das Ziel ist der Weg

Ziele sind schnell gesetzt – umgesetzt eher weniger schnell. Eigentlich wollte ich nur ein paar praktische Tipps zur Ziel(um)setzung sammeln. Nun sitze ich in einem Papierberg zwischen hingekritzelten To-Do-Zettelchen und Psychologie-Fachliteratur.
Die To-Do-Liste ist lang. Und das, obwohl der dafür verfügbare Platz auf dem kaum handgrossen Fresszettel dann doch eher knapp geraten ist. Man hätte dafür auch ein A4-Blatt nehmen können, aber so sehen die vielen Ziele zumindest überschaubar aus. Ob ich dadurch einen besseren Überblick erhalten habe und der heiss ersehnten Zielerfüllung wirklich einen Schritt nähergekommen bin, bleibt fraglich.
Von «Person X dringend noch Rückmeldung geben» über «Essen einkaufen» bis hin zu mal eben so «Seminararbeit schreiben», ist so ziemlich jede Art von «Ziel» vorhanden. Sieht so effektive Zielsetzung aus? Das mit dieser Zielsetzung ist so eine Sache. Überall begegnen wir ihnen, den Zielen, in allen Farben und Formen. Von «Lohnerhöhung» über «Uniprüfung bestehen» bis hin zu «sich gesund ernähren» ist meist alles vorhanden. Trotz der täglichen Auseinandersetzung mit Zielen – ich persönlich habe ich das Gefühl, ziemlich mies zu sein was die Zielsetzung und -umsetzung betrifft. Doch da fällt mir was ein: Wäre ich nicht eigentlich eines Besseren belehrt worden – im wahrsten Sinne des Wortes? Ziele und Zielsetzung waren tatsächlich Themen meines überfüllten Stundenplans, namentlich bei der Pflichtvorlesung Emotion & Motivation. Und bei 1’232 Psychologie-Studierenden (Stand 2024) an der Universität Bern bin ich damit wohl nicht der Einzige. Tja was soll’s, greifen wir halt nochmal zum Lehrbuch.
In der Hoffnung, meine Ziele endlich in den Griff zu bekommen und dabei vielleicht doch noch was zu lernen, stürze ich mich erneut ins Thema. Das Ziel dabei: Tipps für die alltägliche Ziel(um-)setzung extrahieren.
Aller Anfang ist schwer
Was genau sind Ziele überhaupt? Mit dieser Frage will ich starten und hole dafür den Pflichtlektüren-Schinken Motivation und Emotion1 nochmals hervor: «Ziele sind kognitive Repräsentationen erwünschter Zustände. Ziele unterscheiden sich von Wünschen durch die Verbindlichkeit, die sie für die Person haben. Während man bei Wünschen noch in positiven Fantasien schwelgt, «wie schön es doch wäre, wenn …», sind Ziele mit einem definitiven Handlungsentschluss verbunden, also mit der Absicht (Intention), den angestrebten Zielzustand aktiv herbeiführen zu wollen.2 Klingt schon mal gut. Zwei Dinge sind dabei hervorzuheben: zum einen sind Ziele verbindlicher Natur (sonst wären es Wünsche). Das bedeutet: keine fixe Handlungsintention – kein Ziel. Zweitens sind Ziele im psychologischen Sinne «kognitive Repräsentationen erwünschter Zustände». In meinem Fall wäre das Ziel «Person X dringend noch Rückmeldung geben» also bloss meine Art, den ersehnten Zustand «Person X endlich Rückmeldung gegeben zu haben», mental zu verankern. Alles klar. Oder?
Ziele sind kognitive Repräsentationen erwünschter Zustände.
Ziele & Wohlbefinden
Was uns eigentlich interessiert, sind praktische Tipps. Doch dafür müssen wir uns erst einmal mit dem Thema Wohlbefinden befassen: Wenn Ziele gar nicht erst mein Wohlbefinden steigern, was juckt’s mich dann? Spoiler: Ziele allein machen nicht glücklich.3 Leider sind sie kein Selbstzweck. Ansonsten hätte ich wohl mein ganzes Zimmer mit den bekritzelten Fresszetteln über was-noch-alles-zu-erzielen-ist zugemüllt. Die gute Nachricht: Die Erfüllung von Zielen kann sehr wohl zu gesteigertem Wohlbefinden führen. Wenn wir unsere Ziele ganz oder teilweise erreichen und damit persönliche Bedürfnisse stillen können, macht uns das erfahrungsgemäss glücklich . Dieser bereits in der Begriffsdefinition angedeutete Zustand (teilweiser) Bedürfnisbefriedigung hat den Vorteil, dass wir motiviert sind, der tatsächlichen Zielerfüllung näherzukommen. Somit ist die persönliche Relevanz für die erfolgreiche Zielsetzung besonders wichtig. 4, 5 Man spricht hier von der sogenannten Zielbindung. Je höher der Grad der persönlichen Zielbindung, desto besser. Und wie bereits erwähnt, kann schon die partielle Zielerfüllung das Wohlbefinden steigern. Folglich ist wichtig, dass Zwischenziele formuliert werden, um von positiven Effekten auf Gemüt und weiterem Ansporn zu profitieren.
Ein Ziel gilt erst dann als Ziel, wenn es mit einer verbindlichen Intention zur Umsetzung verbunden ist.
Keep it Real(istic)
Was im Zusammenhang mit Motivation und Wohlbefinden nicht vergessen werden darf, ist der Faktor Realisierbarkeit. Wenn etwas dem Ansporn ganz und gar zuwider ist, dann sind es unerreichbare Ziele. Vielleicht fragst du dich mal selbst, wie motiviert du wärst, bei den nächsten Strandferien sämtliche Sandkörner von Hand zu zählen – von der miesen Zielbindung hier mal ganz abgesehen. Hier können Zwischenziele helfen – solange das Ziel grundsätzlich möglich ist. Sagen wir, statt Sandkörner sollst du sämtliche Stühle in der Unitobler-Bibliothek zählen. Auch hier wird sich deine Motivation wahrscheinlich in Grenzen halten. Wenn ich dich in einem ersten Schritt aber nur nach der Anzahl Stühle an einem einzelnen Tisch frage, hättest du wohl kaum Mühe damit. Du hättest die Stühle wahrscheinlich schon gezählt, noch bevor du dich wunderst, was der Typ eigentlich für komische Fragen stellt. Achte also nicht nur auf die persönliche Relevanz, sondern vor allem auch auf die Realisierbarkeit – brich grosse Ziele in handliche kleine Zwischenschritte auf.
Mentales Kontrastieren
Nun geht’s ans Eingemachte – fertig Theorie, ab in die Praxis. Aufbauend auf den Prinzipien der Realisierbarkeit und Zielbindung präsentiere ich die Strategie des Mentalen Kontrastierens nach Oettingen & Reininger6. Dabei handelt es sich um eine Methode, die sowohl unrealistische Wünsche von durchsetzbaren Zielen zu trennen vermag, als auch die Zielumsetzung entscheidend voranbringen kann. Vorab sei gesagt, dass deren Effektivität in diversen Studien nachgewiesen werden konnte. Das Ganze geht folgendermassen: Zuerst nimmst du ein von dir gesetztes Ziel herbei, sagen wir mal «3 x pro Woche Joggen gehen». In einem zweiten Schritt malst du dir den ersehnten Zielzustand in allen Farben gedanklich aus, etwa «ich bin fitter und habe mehr Energie», «meine Stimmung hat sich verbessert» und «ich bin stolzer und selbstbewusster». Schön und gut. Nun kommt das Kontrastieren ins Spiel. Besinne dich aller Hindernisse, die dir auf dem Weg zur Zielerreichung im Weg stehen. Das könnte lauten «bei schlechtem Wetter habe ich keine Lust zu joggen», «abends fühle ich mich zu energielos» oder «ich weiss nicht, wie ich anfangen soll». Zum einen gibt dir dieser Kontrast einen Realitätscheck. Statt in der Tagträumerei zu verschlafen, erkennst du, was effektiv nötig ist, um das gewünschte Ziel zu erreichen (beziehungsweise, ob es überhaupt möglich ist). Zum anderen wird dir bewusst, welche schönen Folgen die Zielerreichung haben kann, was den entscheidenden Motivationskick liefern kann. Mentales Kontrastieren lässt dich der alltäglichen Hindernisse bewusst werden. Dieses Bewusstwerden erst befähigt dich, die Hindernisse proaktiv anzugehen.
Implementierungsintentionen
Weiter mit der Praxis: Die Devise lautet Implementierungs- statt blosse Zielintentionen! Was Zielintentionen sind, wissen wir dank der psychologischen Arbeitsdefinition ja bereits. Hier nochmal ein Auffrischer: Ein Ziel gilt erst dann als Ziel, wenn es mit einer verbindlichen Intention zur Umsetzung verbunden ist. Ob ich mir nun vorgenommen habe, fix mehr Muskelmasse aufzubauen (Ziel mit verbindlicher Intention) oder einfach während der Vorlesung über meine Sommerferien tagträume (blosser Wunsch), ist also etwas ganz anderes. Ob diese Handlungsintention am Schluss Früchte trägt, ist der Definition dabei grundsätzlich Wurst. Diese Zielintentionen leiten sich dabei aus den ersehnten Zielzuständen ab – gemäss Beispiel etwa «kräftig und körperlich gesund sein». So viel dazu. Doch was sind jetzt Implementierungsintentionen? Nun, wie wir ja alle wissen, ist die Zielsetzung (leider) nur die eine Seite der Medaille. Genauso wichtig, wenn nicht wichtiger, ist die ZielUMsetzung. Meistens scheitert es ja nicht am Setzen der Ziele an sich (auch wenn diese miserabel gesetzt sein mögen), sondern die Umsetzung bereitet Mühe. Implementierungsintentionen schaffen hier (nachweislich7) Abhilfe. Kurz und knapp geht es darum, die Intention zielgerichteten Verhaltens in den Alltag zu implementieren. Und das geht erstaunlich einfach: Binde das erwünschte Verhalten mental an Dinge und Situationen, die dir im Alltag begegnen. Dafür wird ein sehr simples Format vorgeschlagen: «Wenn Situation X eintritt, führe ich Verhalten Y aus.» Ein Beispiel: «Nachdem ich von der Uni heimkomme, packe ich direkt die Wäsche in die Waschmaschine (bevor ich etwas anderes tue)». Und genau hier kommt nun das Mentale Kontrastieren wieder ins Spiel: Mit den Wenn-Dann-Intentionen kann man die damit erkannten Hindernisse nun angehen: Für das Hindernis «im Gegensatz zur Uni vergesse ich zuhause gern die Zeit und erledige kaum noch was» wäre zuvor genannte Implementierungsintention («nachdem ich von der Uni heimkomme…») wohl eine super Überwindungsmethode. Diese Intentionen lassen sich auch verketten, etwa um umfangreiche To-Do-Listen abzuarbeiten. So könnte man ergänzen: «Nachdem ich die Wäsche in die Maschine gepackt habe, gehe ich kochen. Nach dem Kochen esse ich und nach dem Essen hänge ich die nasse Wäsche auf.»
Warum funktionieren Implementierungsintentionen? Weil dadurch zielgerichtetes Verhalten mental an ein eindeutiges Signal gebunden wird.
Die Wirkung von Signalen
Warum funktionieren Implementierungsintentionen? Weil dadurch zielgerichtetes Verhalten mental an ein eindeutiges Signal gebunden wird: Sobald die gelinkte Situation X eintritt, signalisiert das Gehirn «Halt stopp, jetzt ist es Zeit, Y auszuführen». Das Signal führt dazu, dass die mentale Repräsentation (das Ziel) sogleich ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt. Dadurch wird das Verhalten (die proaktive Zielumsetzung) quasi automatisch initiiert, ohne dass es weiterer bewusster Prozesse bedarf. Dies ist überaus praktisch, angesichts der Tatsache, dass aller Anfang bekanntlich schwer ist. Diese «Signale» können verschiedenster Natur sein, sei es eine bestimmte Uhrzeit (Wecker stellen hilft), eine Benachrichtigung eines Peers oder diverse andere, von aussen eintretende situative Reize. Skeptisch? Überlege dir folgendes Beispiel: Warum kannst du in der Bibliothek meist besser lernen als zuhause? Hier könnte die Implementierungsintention lauten: «Wenn ich in der Bibliothek angekommen bin, fange ich an zu lernen.» Auch wenn du das bisher vielleicht nie bewusst so formuliert hast, geklappt hat es wohl trotzdem ganz gut.
Wenn ich in der Bibliothek angekommen bin, fange ich an zu lernen.
Handlungskontrollstrategien
Bisher haben wir Signale als unterstützendes Instrument zur Zielumsetzung betrachtet. Bei Signalen handeln wir reaktiv: Signale treten auf, wir reagieren auf günstige Weise darauf. Das Schöne ist, wir brauchen nicht auf externe Signale zu warten, sondern können selbst die Kontrolle übernehmen und proaktiv handeln. Bevor wir zum Schluss kommen, möchte ich deshalb noch kurz die Handlungskontrollstrategien nach Kuhl8 beleuchten. Im Grossen und Ganzen wird zwischen Aufmerksamkeits-, Enkodierungs-, Motivations-, Emotions-, und Umweltkontrolle unterschieden. Bei der Aufmerksamkeitskontrolle geht es darum, die Aufmerksamkeit bewusst auf zielförderliche Aspekte zu richten. Geht man etwa seine Seminararbeit nochmals durch, lohnt es sich von Anfang an bewusst auf Schreibfehler und Schreibweise zu achten. Bei der Enkodierungskontrolle hingegen soll man bewusst nur abspeichern (enkodieren), was zielrelevant ist: Zur Prüfungsvorbereitung liest man nicht das ganze Lehrbuch nochmals, sondern geht nur die wichtigsten Punkte im Rahmen einer Zusammenfassung nochmals durch. Bezüglich der Motivationskontrolle haben wir bereits die Methode des Mentalen Kontrastierens betrachten. Dabei soll man sich nämlich der ersehnten Vorteile der Zielerfüllung besinnen – um der Motivation willen.
Emotions- & Umweltkontrolle
Bisher recht intuitiv oder bereits behandelt kommen wir nun noch zu den für uns wohl nützlichsten Kontrollstrategien – der Emotions- und Umweltkontrolle. Über die Emotionskontrolle wurden im Rahmen des breiter gefassten Konzepts der Emotionsregulation bereits unzählige Bände verfasst. Kurzgesagt geht es darum, die Zielrealisierung zu begünstigen, indem man sich in einen dafür förderlichen emotionalen Zustand versetzt. Weinen hilft zur Verarbeitung, Wut beim Krafttraining, ein beruhigender Tee beim Einschlafen und Ausgehen mit Freunden hilft, um sich von einer stressigen Woche zu erholen. Die Möglichkeiten sind unendlich. Ähnlich sieht es bei der Umweltkontrolle auf. Grob zusammengefasst bedient man sich der Umweltkontrolle, indem man ungünstigen Signalwirkungen gar nicht erst die Chance gibt einzutreten. Klassisches Beispiel wäre das Handy beim Lernen: Wenn das Handy auf dem Tisch mit einer neuen Benachrichtigung aufleuchtet, schaut man halt drauf – die Konzentration ist weg. Wenn das Smartphone aber ausgeschaltet in der Tasche verstaut ist, wird dieses wohl kaum die weitere Lernzeit beeinträchtigen.
Grob zusammengefasst bedient man sich der Umweltkontrolle, indem man ungünstigen Signalwirkungen gar nicht erst die Chance gibt, einzutreten.
Ziel erreicht?
Was am Ende bleibt, ist vielleicht nicht die perfekte Zielerreichungsformel – dafür aber ein besseres Verständnis, wie Ziele funktionieren. Zielsetzung ist mehr als nur das Niederschreiben von reisserischen Tagträumen und grossen Vorsätzen auf kleine Zetteln. Und Zielumsetzung ist mehr als blosse Willenskraft. Die Psychologie lehrt uns, Ziele als Prozesse wahrzunehmen. Sie beginnen mit ehrlicher Selbstreflexion, bedürfen emotionaler und rationaler Abwägung und können durch verschiedene Methoden der achtsamen Zielrealisierung effektiv in die Tat umgesetzt werden. Es geht nicht um die blosse Effizienzsteigerung, sondern die Steigerung der eigenen Selbstwirksamkeit. Es gilt nicht alles erreichen zu müssen, sondern zu verstehen, was persönlich wirklich wichtig ist – und was es braucht, um dies zu verwirklichen. Nun da ich das alles weiss, bin ich ready: Ich werde mir der persönlichen Relevanz des Ziels bewusst, kontrastiere zwischen Gedanken an die schöne Zukunft und dem steinigen Weg dahin, stelle mein Handy aus und geh in die Bibliothek. Und wenn ich in der Bibliothek angekommen bin, dann, ja dann fange ich endlich an, meine Seminararbeit zu schreiben – in realistischen Zwischenschritten, versteht sich.
1 Brandstätter et al. (2018). Motivation und Emotion
2 Bargh et al. (2010). Handbook of social psychology
3 Brunstein, J. C. (1993). Personal goals and subjective well-being: A longitudinal study
4 Brunstein et al. (1998). Personal goals and emotional well-being: The moderating role of motive dispositions
5 Schultheiss et al. (2008). The role of implicit motivation in hot and cold goal pursuit: Effects on goal progress, goal rumination, and emotional well-being
6 Oettingen, G., & Reininger, K. M. (2016). The power of prospection: Mental contrasting and behavior change
7 Gollwitzer, P. M., & Sheeran, P. (2006). Implementation intentions and goal achievement: A meta-analysis of effects and processes 8 Kuhl, J. (1983). Motivation, Konflikt und Handlungskontrolle