«Es ist immer einfacher, davon auszugehen, dass Sexualität kein Thema ist.»

Es geht nicht primär um das Tun, sondern um das Sein. Foto: Maria Schmidlin

07. Oktober 2022

Von und

Behinderung und Sexualität: Zwei gesellschaftliche Tabuthemen. Als Sexualbegleiter beschäftigt sich John mit beiden. Ein Gespräch über Nähe, Ohnmacht und wie man Grenzen erkennt, wenn verbale Kommunikation kaum möglich ist.

John, wie beschreibst du deine Arbeit?

Ich habe den Begriff des Berührenden am liebsten. Das gefällt mir, weil die Formulierung eine Passivität ausdrückt. Der ältere Begriff ist Berührer, aber das ist so aktiv. Das ist, als würde ich hingehen und jemanden aktiv berühren. Auch den moderneren Begriff Sexualbegleiter finde ich in Ordnung, weil ich das Wort des Begleiters darin sehr passend finde. Aber dann ist halt das Wort Sexualität sehr präsent.

Stört dich das manchmal?

Eine meiner Klientinnen ist 70-jährig, Tetraplegikerin mit Hirnverletzung. Sie ist gelähmt, ihre Hände sind sehr verkrampft, dort nimmt der Aspekt der Sexualität wenig Raum ein. Da passt Sexualbegleiter nicht, dort bin ich Berührender. Ich schenke ihr körperliche Nähe und menschlichen Kontakt.

Wie können wir uns das vorstellen?

Vor allem durch Augenkontakt. Sie kann selten so reden, dass man sie versteht. Ausser «Ja» und «Nein», welche sie mit unterscheidbaren Lauten ausdrückt, ist die Kommunikation mit Worten schwierig. Aber der Augenkontakt ist unglaublich. Es ist sehr berührend, über die Augen zu erkennen, wie sie lächelt. Der Mund verzieht sich schon leicht, aber vor allem lächelt sie mit den Augen.

«Es ist sehr berührend, über die Augen zu erkennen, wie sie lächelt.»

 

Im Gespräch mit John. Foto: Maria Schmidlin

Wie ist es zu diesem Kontakt gekommen?

Über eine Anfrage des Heims. Häufig sind es die betreuenden Personen, die wissen und erkennen, dass da ein Bedürfnis der Person vorhanden ist. Bei dieser Frau hat man gemerkt, dass sie sich nur schon über den Besuch des Hausarztes immer sehr gefreut hat.

Hauptberuflich arbeitest du seit vielen Jahren in der IT-Branche. Wie bist du dazu gekommen, nebenberuflich als Berührender zu arbeiten?

Einerseits hat mich die Arbeit mit Behinderten schon immer interessiert. Das andere ist effektiv der Aspekt der Berührung, der Sexualität in einem umfassenden, ganzheitlichen Sinn. Und natürlich ein bisschen Zufall.

Welcher Zufall?

Ich war ein paar Jahrzehnte verheiratet, habe drei Kinder, alle über 30 Jahre alt. Vor fünf Jahren haben die Mutter meiner Kinder und ich uns getrennt. Ein Jahr später ging ich an eine erste Kuschelparty, weitere solche Anlässe folgten. Dort habe ich eine Frau kennengelernt, die gerade eine Ausbildung in Tantramassage abgeschlossen hat. Durch sie bin ich zur Tantramassage-Ausbildung (nach Tantramassagen-verband, TMV) gekommen. Dadurch wiederum habe ich Leute kennengelernt, welche Sexualbegleitung anbieten. Dies konnte ich mit meinem Interesse für die Arbeit mit Menschen mit Behinderung verbinden.

Menschen mit Behinderung und Sexualität – diese Verbindung löst gesellschaftlichen Gegenwind aus. Wie erklärst du dir das?

Es sind Themen, die nahe am Tabu liegen. Für Heimleitende und Pflegende ist es immer einfacher, davon auszugehen, dass Sexualität kein Thema ist. Aber ich glaube, das verändert sich. Vor allem durch junge Menschen, es ist schlussendlich auch eine Generationenfrage.

Wie reagiert denn deine Familie?

Meine Kinder finden es gut, dass ich nebenberuflich auf einem neuen Weg unterwegs bin.Meine Eltern sind die einzigen in meinem nahen Umfeld, die nicht wissen, was ich mache… (denkt nach) zumindest bis jetzt.

Ein häufig formulierter Kritikpunkt ist, dass es in der Arbeit als Berührender für Menschen mit Behinderung nicht verständlich sei, dass es sich um eine Dienstleistung und nicht um eine Beziehung handle. Wie ziehst du diese emotionale Grenze?

Das ist eine sehr wichtige Frage und eine grosse Herausforderung. Ich kommuniziere ganz offen. Ich sage von Anfang an, dass ich eine Partnerin habe, und dass eine Partnerschaft für mich nicht in Frage kommt. Ich habe mir auch das Instrument eines vertragsähnlichen Dokuments geschaffen. Da schreibe ich klar, was ich anbiete, was ich nicht anbiete, was die Klientin bzw. der Klient sich wünscht und was er oder sie nicht will, dies als Basis einer gegenseitigen Vereinbarung. Auch gibt es ein Stopp-Signal, das durch verschiedene Kommunikationscodes geäussert werden kann.

«Meist werde ich von Pflegenden angefragt, zu denen die Klienten und Klientinnen Vertrauen haben»

Wie können wir uns diese Kommunikation, teils ohne verbale Äusserungen, vorstellen?

Die Kommunikation mit Menschen, die andere Voraussetzungen haben, wo beispielsweise Verständigung durch Sprache praktisch unmöglich ist, ist nicht einfach. Der Schlüssel ist das Konzept der Basalen Kommunikation von Winfried Mall. Da hat sich für mich eine neue Welt eröffnet. Ich habe gelernt, mit jemandem in Kommunikation zu treten und zu schauen, was möglich ist, und wie. Man muss, vereinfacht gesagt, spüren, wie es möglich ist. Aber ich stehe damit noch ganz am Anfang.

Wir stellen uns vor, dass das seine Zeit braucht. Wie baut sich ein Vertrauensverhältnis zwischen dir und deinen Klient*innen auf, das Intimität ermöglicht?

Meist werde ich von Pflegenden angefragt, zu denen die Klienten und Klientinnen Vertrauen haben. Der Erstkontakt findet zu dritt statt. Und danach machen wir einen Schritt nach dem anderen.

Wie läuft das ab?

Bei der Frau mit Tetraplegie bin ich ans Bett und habe einfache Berührungen vorgenommen. Auch die Stimme ist wichtig, die Frau hört, was ich sage, und ich höre sie auch, wenn sie etwas sagen möchte. Für mich ist es zeitweise sehr schwierig, wenn ich merke, dass sie mir etwas mitteilen möchte und ich keinen Plan, wirklich keinen Plan habe, was sie mitteilen möchte (macht murmelnde/grummelnde Geräusche). Dann sitze ich da, minutenlang, und habe keinen blassen Schimmer, was das bedeuten könnte.

Was lösen solche Momente in dir aus?

Ein Gefühl von Ohnmacht, das Gefühl nicht zu genügen. Da kommt dann das ganze Leistungsdenken: Ich bin doch derjenige, der dafür bezahlt wird hier zu sein. Aber ich komme an meine Grenzen.

«Es ist sehr berührend zu erleben, was Präsenz, Achtsamkeit, Zuwendung und eben Intuition erreichen können.»

Wie gehst du damit um? Ist das Scheitern nicht vorprogrammiert?

Ich bringe meine Situation zum Ausdruck:  «Ich höre, dass du mir etwas mitteilen möchtest, aber ich verstehe dich nicht, oder noch nicht.» Und dann darf man niemals die Intuition vergessen – und das sage ich als jemand, der an der ETH Informatik und Physik studiert hat. Wenn mir das jemand vor 30 Jahren nach dem Abschluss gesagt hätte, hätte ich dies wohl belächelt. Aber es ist erstaunlich, was möglich ist, wenn man der Intuition vertraut. Und schliesslich geht es nicht primär um das Tun, sondern ebenso um das Sein, Da-Sein.

Die Intuition ist stärker als man denkt. Foto: Maria Schmidlin

Was kann die Intuition?

Einmal sind wir aufs Thema Tanz und Ausgang gekommen. Nach einigem mich einfühlen hatte ich diesen spontanen Impuls und habe zu ihr gesagt: «Gell, das wäre schön, wenn wir jetzt zusammen in den Ausgang gehen und tanzen könnten». Da ging für sie eine Welt auf, da hat sie voller Freude gestrahlt. Auch die Pflegenden haben mir später erzählt, dass sie sehr glücklich und zufrieden gewesen sei. Es ist sehr berührend zu erleben, was Präsenz, Achtsamkeit, Zuwendung und eben Intuition erreichen können. Was möglich wird wo man denken könnte: Da ist keine Kommunikation möglich.

Das hat wenig damit zu tun, was gemeinhin als Sexualität bezeichnet wird…

Es geht auch nicht primär um Sexualität, sondern darum, sich Zeit zu nehmen, den Kontakt aufzubauen, Intimität aufzubauen und Platz für Wünsche zu schaffen.

Wie würdest du denn Sexualität in deinem Beruf mit drei Worten bezeichnen?

Berührung, Lebensfreude, Verbindung.

Gibt es auch Momente in deiner Arbeit, die stärker auf Körperlichkeit fokussiert sind?

Ja, zum Beispiel mit einer Klientin, die zwischen 30 und 40 Jahre alt ist, körperlich nicht behindert, aber schwer geistig beeinträchtigt – die Pflegenden haben gesagt, sie sei geistig auf dem Niveau eines Kleinkindes. Da habe ich mir dann schon zuerst überlegt, was sie von mir möchte, und inwiefern ich ihre Wünsche und Grenzen erkennen kann – wieder eine ganz neue Kommunikationssituation. Aber ich habe schnell gemerkt, dass sie verbal sehr gut «Nein» sagen kann (lacht). Zu Beginn hat sie sehr klare Wünsche geäussert, und – ich sage das jetzt in ihrer Sprache – auf ihrer Wohngruppe schon vor meinem Besuch gesagt: “John Püppi aalänge.” Aber im direkten Kontakt – und das kennt ihr sicher auch, wenn man zuerst nur schreibt oder chattet, und jemanden dann wirklich vor sich hat –  da war sie dann zuerst sehr zurückhaltend.

Wie verlief der Kontakt weiter?

Für einige Zeit war ich sozusagen ein normaler Besucher. Wir sind auf ihrem Sofa gesessen und haben ihr Fotoalbum zusammen angeschaut – das ist ihr Allerheiligstes. Dort sind Fotos von Bewohner*innen und Pflegenden drin. Und dann, auf einmal, gibt es eine Seite mit, sagen wir, recht expliziten Darstellungen von Männern. Auf der nächsten Seite ging es weiter mit Familie und Pflegenden. Da habe ich schon nicht schlecht gestaunt, aber das ist ihre Welt.

«Es war eine Wasserschlacht, wie man es sich fast nicht vorstellen kann.»

Kam es schliesslich zu einer körperlichen Begegnung zwischen euch?

Eine Betreuerin hat die Klientin, in Absprache mit mir, gefragt, ob sie interessiert wäre, mit mir zu baden. Sie habe ganz positiv und überrascht reagiert, es sei ihr aber auch ein bisschen peinlich gewesen. Beim nächsten Besuch haben wir zusammen gebadet. Sie ist immer sehr impulsiv, hier besonders, es war eine Wasserschlacht, wie man es sich fast nicht vorstellen kann. Es war ein tolles Erlebnis, mal so in eine Berührung zu gehen.

Kannst du uns allen – aus solch schönen Momenten schöpfend – einen Rat für eine erfüllte Sexualität geben?

Achtsam kommunizieren. Wahrnehmen, mit offenem Herzen hören, sehen und verstehen zu versuchen. Und auf dieser Basis einander begegnen – auf allen Ebenen, auch körperlich.

Kommuniziert unsere Gesellschaft nicht achtsam genug?

Achtsamkeit im Umgang miteinander ist, gerade im Bereich der Sexualität, oder allgemeiner gesagt, der Körperlichkeit, sehr wichtig. Sexualität ist für viele Menschen reduziert auf den Genitalbereich. In unserem westlichen, modernen Verständnis hat vieles, was körperlichen Kontakt betrifft, schnell einmal mit diesem eingeschränkten Verständnis von Sexualität zu tun. Abgesehen von der Sexualität – und vielleicht teils auch in diesem Bereich – sind wir eine relativ berührungsarme, wenn nicht sogar berührungslose, Gesellschaft. Gerade hier geht es darum, sich und andere achtsamer wahrzunehmen – auch im Augenkontakt, auch in den Begrüssungs- und Verabschiedungsritualen. Dem Gegenüber zu zeigen und mitzuteilen: «Ich sehe dich».

0 0 votes
Article Rating
Abonnieren
Benachrichtige mich zu:
0 Comments
Inline Feedbacks
View all comments