Prägend in der Stadt, ideenlos auf dem Land

Die rot-grüne Fraktion im Berner Stadtrat. Bild: Carlo Bischoff

05. Oktober 2015

Von und

Am 18. Oktober entscheiden die Stimmberechtigten über die neue Zusammensetzung von National- und Ständerat. Die bürgerlichen Parteien legen voraussichtlich zu. In den grossen Städten der Schweiz dominiert Rot-Grün. Für einen Erfolg auf nationaler Ebene fehlen den linken Parteien aber die Konzepte.

Die eidgenössischen Parlamentswahlen stehen vor der Tür. Glaubt man den jüngsten Umfragen, so steht der Schweiz bei den kommenden National- und Ständeratswahlen ein Rechtsrutsch bevor. Im Wahlergebnis dürfte sich zum wiederholten Mal ein tiefer Stadt-Land-Graben widerspiegeln. Linke Anliegen finden besonders in den Ballungszentren des Landes breite Zustimmung. Über die Stadtgrenzen hinaus sind sie jedoch kaum mehrheitsfähig.

Wahlherbst geht in die heisse Phase

Es sind stressige Zeiten für viele Schweizer Politikerinnen und Politiker. Seit Wochen tingeln sie ununterbrochen durch die Turnhallen und Kirchgemeindehäuser des Landes, um noch ein paar letzte Stimmen zu ergattern. An Podiumsdiskussionen werden die Klingen gekreuzt, überall hängen Wahlplakate. Zusehends wichtiger wird auch der digitale Wahlkampf – Stichtag ist der 18. Oktober.

Gemäss den neusten Erhebungen des SRG-Wahlbarometers vom Institut gfs Bern deutet vieles auf einen Stimmenzuwachs für die FDP und SVP hin. Verluste werden den Mitteparteien CVP, BDP und GLP vorausgesagt. Während in der Bundesversammlung die bürgerlichen Blöcke gesamthaft wohl zulegen werden, die Parteien des linken Spektrums dagegen an Ort und Stelle zu treten scheinen, präsentiert sich auf städtischer Ebene ein ganz anderes Bild.

«Wer kann sich heute noch erinnern, dass der Bundesplatz ein reiner Autoparkplatz war?»

In rot-grünen Händen

Gemäss den offiziellen Einwohnerzahlen des Bundesamtes für Statistik leben auf dem Gebiet der fünf grössten Schweizer Städte über eine Million Menschen. Zürich, Genf, Bern, Basel und Lausanne haben zudem alle etwas gemeinsam. In den jeweiligen Stadtparlamenten befinden sich ausschliesslich linke Fraktionen in der Mehrheit. Auch der Blick auf das Wahlverhalten der Stadtbevölkerung verdeutlicht: Bürgerliche Anliegen haben hier einen schweren Stand. So lag beispielsweise die Zustimmung zur Masseneinwanderungsinitiative in Zürich bei 33 und in Bern bei nicht einmal 28 Prozent.

In der Stadt Bern bilden seit 1992 die Sozial-demokraten gemeinsam mit dem Grünen Bündnis und Gruppierungen der Mitte, die «RGM-Mehrheit». 23 Jahre sind sogar in der Schweiz, wo politische Beständigkeit die Regel ist, eine lange Zeit. Dass sich an dieser Vormachtstellung in naher Zukunft etwas ändern könnte, davon ist nicht auszugehen – 2012 zementierten die Berner Linksparteien ihre Mehrheit mit einem Glanzresultat bei den Stadt- und Gemeinderatswahlen. 2016 endet die Tschäppät-Ära im Stadtpräsidium und mit Ursula Wyss steht schon eine sozialdemokratische Kronfavoritin bereit.

 «Es benötigt viel Überzeugungsarbeit, um den Anliegen der SP in den ländlichen Gegenden zum Durchbruch zu verhelfen.» 

Funktionierende Realpolitik

Annette Lehmann steckt mitten im Wahlkampf. Die 41-Jährige ist seit bald sechs Jahren Präsidentin der SP-Fraktion im Berner Stadtrat und blickt bereits auf eine lange und vielseitige politische Karriere zurück: Politisiert wurde sie durch ihre Eltern, 1991 folgte der Parteibeitritt, als Mitglied der Juso kandidierte sie bereits 1992 ein erstes Mal für den Stadtrat. Ihre Chancen auf einen Nationalratssitz schätzt sie selber als gering ein: «Auf der Frauenliste kandidieren neben den Bisherigen sehr viele starke Frauen.» Auf die Gründe für den langanhaltenden Erfolg ihrer Partei auf kommunaler Ebene angesprochen, sieht Lehmann die Verbesserung der Lebensqualität sowie die Chancengerechtigkeit. «Frühförderung, ein flächendeckendes Kita-Angebot und eine Alterspolitik, die auch Seniorinnen und Senioren zur Partizipation einlädt – wir sind eine Partei für alle.»

FDP verbindet

Bild: Carlo Bischoff

«Wer kann sich heute noch erinnern, dass der Bundesplatz ein reiner Autoparkplatz oder dass die Überquerung des Bahnhofplatzes nur unterirdisch möglich war?», entgegnet Natalie Imboden auf die Frage nach den grössten politischen Erfolgen von «RG». Seit 2010 ist Imboden Grossrätin des Kantons Bern, zuvor war sie jahrelang im Berner Stadtrat und als Präsidentin des Grünen Bündnisses tätig. Die StadtbernerInnen hätten sich in verschiedenen Abstimmungen für Offenheit und Toleranz ausgesprochen, auch gerade deshalb sei der Regierungsauftrag der rot-grünen Mehrheit übertragen worden, denn Rot-Grün stehe für genau diese Werte ein. Nachholbedarf gebe es aber immer. «Die schwache Unterstützung des gemeinnützigen und preisgünstigen Wohnungsbaus war ein Versäumnis», gibt sich die Grossrätin selbstkritisch.

Dickes, bürgerliches Fell

Wer als Bürgerlicher im Stadtrat politisieren wolle, der brauche ein dickes Fell, um immer wieder motiviert weiter zu kämpfen, meint Rudolf Friedli, Parteipräsident der SVP Stadt Bern. «Die Mehrheit der Stimmberechtigten in den grossen Schweizer Städten ist politisch links eingestellt. Das muss man so akzeptieren.» So frustrierend das manchmal sein möge, wer das nicht verkrafte, der müsse sich nicht wählen lassen. Im Gegensatz dazu, gestalte sich bereits im Grossen Rat die Situation ganz anders.

«Die Mehrheit der Stimmberechtigten in den grossen Schweizer Städten ist politisch links eingestellt. Das muss man so akzeptieren.»

Friedli spricht damit den entscheidenden Punkt im Hinblick auf die -bevorstehenden gesamtschweizerischen Wahlen an. Woran liegt es, dass die politische Dominanz der «Linken» auf die städtische Ebene beschränkt bleibt? Denn so erfolgreich die linke Politik der letzten Jahre auf städtischer Ebene sein mag, so ernüchternd fällt die Bilanz auf nationaler Ebene aus.

Den Ton geben andere an

Die SP ist zwar nach wie vor zweitstärkste Kraft in der Bundesversammlung und wird es allem Anschein nach auch bleiben. Die Grünen dagegen gehörten bei den Nationalratswahlen 2011 zu den Verlierern. Dass die damals verlorengegangenen Wähleranteile diesen Oktober zurückerobert werden, zeichnet sich nicht ab. Durchzogen fiel in den letzten Jahren auch das Ergebnis zahlreicher Volksabstimmungen auf der Landesebene aus. Rot-Grün hatte in der noch laufenden Legislatur einige bittere Niederlagen einzustecken. Die Mindestlohninitiative scheiterte überdeutlich, Steuerprivilegien für wohlhabende Ausländer mochte das Volk ebensowenig abschaffen, wie es eine Erbschaftssteuer einführen wollte.

«Viele Themen starten in urbanen Gebieten und setzen sich dann schrittweise – wenn auch langsam – in Agglomerationen oder sogar in ländlichen Gebieten durch»

Für die Co-Präsidierenden der SP Stadt Bern, Stefan Jordi und Edith Siegenthaler, ist dies primär auf die wertkonservativere Einstellung der ruralen Bevölkerung zurückzuführen: «Es benötigt viel Überzeugungsarbeit, um den Anliegen der SP in den ländlichen Gegenden zum Durchbruch zu verhelfen.» Auf der nationalen Bühne fehlt es Rot-Grün aber oftmals genau an dieser Überzeugungskraft. Während die politischen Gegner mit Themen wie der Zuwanderung bei den StimmbürgerInnen punkten, tut sich das linke Lager schwer damit, eigene Schwerpunkte zu setzen. Probleme, wie die zunehmende Wohnungsknappheit oder die höheren Lebenshaltungskosten, welche die urbane Schweiz beschäftigen, treiben die ländliche Bevölkerung nicht im gleichen Masse um. Die stadtpolitischen Lösungsansätze von Rot-Grün scheinen im gesamtschweizerischen Kontext gar nicht anwendbar.

Jordi und Siegenthaler glauben dennoch, dass der Erfolg in den Städten irgendwann auch aufs Land überschwappt: «Viele Themen starten in urbanen Gebieten und setzen sich dann schrittweise – wenn auch langsam – in Agglomerationen oder sogar in ländlichen Gebieten durch, wie zum Beispiel Begegnungsstrassen, die heute in Dörfern gang und gäbe sind.»

Ob die beiden damit Recht behalten werden, entscheidet sich am 18. Oktober. Wahrscheinlicher ist, dass Rot-Grün sich damit abfinden muss, dass dem Stimmvolk Begegnungszonen und Verkehrsberuhigungen gerade reichlich egal sind. Die Musik spielt andernorts. Beim Asylthema und der Europafrage beispielsweise – und da geben andere den Ton an.

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