Von der Bildhauerei und Harvey Specters in Pelzmantel

Acht Monate in Paris. Sie waren irgendwas zwischen unbubble, Realitätscheck-Retreat und Austausch. Moment, was heisst das überhaupt, ein Austausch? So offen ist auch dieser Text. Irgendwas zwischen Essay und Erfahrungsbericht. Zwischen Gedanken darüber, was ein Austausch ist und einer Rezension eigener Bilder.
Gastbeitrag: Jonathan Möri Fotos: Jonathan Möri
Ehrlich gesagt ist es nicht einfach, acht Monate Paris in einen Text zu fassen. Darüber, was so ein Austauschsemester alles sein kann, bestehen gemeinhin unzählige Bilder und Vorstellungen. So ging es auch mir, als ich mit dem Auto und meinen sieben Sachen in Paris einfuhr. Zuerst ein kurzer Impuls, wieder umzudrehen und mich selbst und dieses Projekt für verrückt zu erklären. Diese Offenheit, was vor mir liegen könnte, war schliesslich aber zu reizvoll und ich stellte mich meinen Bedenken. Zum Glück, kann ich jetzt sagen. Sprachen lernen, universitäre Weiterentwicklung, sozialer Austausch, die Palette war anfangs gross.
Es ist daraus ein Bild entstanden, dass sich in der Realität über mich selbst, meinen sozialen und ökonomischen Hintergrund und dessen Widerstandsfähigkeit besser kuratieren lässt.
Sorbonne Panthéon Paris I – oder so
Direkt neben dem pompösen Panthéon, ein Bild einer Institution: die Universität Sorbonne Paris Panthéon I, Paris 1 oder so. Ich weiss den richtigen Namen bis heute nicht. Da hat mir auch der erzieherisch mahnende Hinweis aus dem Sekretariat nicht geholfen. Als ich nachfragte, ob die Prüfung, die eigentlich am nächsten Tag stattgefunden hätte nun auf den Tag später verschoben worden sei, oder schon gestern gewesen wäre, wurde ich vor allem darüber informiert, wie die Universität ganz präzise zu nennen sei, zumal offenbar selbst in solchen Situationen sehr relevant. Die falsche Aneinanderreihung dieser pleonastischen Synonymen für “wir sind eine gute Uni, denn bei uns haben vor vielen Jahren Thomas von Aquin, Marie Curie und Simone de Beauvoir studiert” gehört sich wohl nicht, sorry. Irgendwie beispielhaft für meine Erfahrungen an dieser Uni, solche latenten Reputations-Unterhaltsarbeiten. Darauf wird viel Wert gelegt. Es ist die Elite-Uni in Frankreich, so kommt sie auch optisch daher. Die mit edlem Holz gesäten Vorlesungssäle mit Ihren stuckverzierten hohen Wänden wären in der Schweiz längst ein Museum. Die antiken Glasfronten zwischen übervollen verstaubten Büchergestellen lässt die Bibliothek wie ein Fantasy-Drehort aussehen. Die gesamte Architektur also weckt bereits Vorstellungen vom Alltag in dieser Institution, von tiefgründigen intellektuellen Diskursen und feinstofflicher Auseinandersetzung mit rechtspolitischen Themen. Immerhin dominierte die article-49.3 (siehe unten) Hochkonjunktur die gesellschaftliche Gesprächsagenda.
Die Universität Sorbonne Paris Pantheon I, Paris 1 oder so. Ich weiss den richtigen Namen bis heute nicht.
In der Realität wünscht man sich aber auch den gelebten Vorlesungsstil im Museum. Geblieben ist mir vor allem eins: ich habe schon lange kein Diktat mehr geschrieben, mein Hirn hat dies antiquiert. Aufgefallen ist mir das, als meine Aufmerksamkeit gerade eine kognitive Rauchpause einlegte, wenn die Dozentin als Chauffeurin des Monolog-Schnellzugs mal für eine zu kurze Atempause Halt machte. Der Vorlesungsfahrplan war aber so getaktet, dass ich die Weiterfahrt dann leider verpasst habe. Die Dozierenden monologisieren während drei Stunden auf dem erhöhten Podest in ihren unverhältnismässig grossen Polsterstühlen. Sie rackern lesend ihren selbst verfassten Skript-Stapel ab und schaffen es meist nur schwer, die Absurdität der Veranstaltung zu verstecken.

Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Université Paris 1, Panth… ihr wisst was ich meine…
In Frankreich ist man in Sachen Diktaten immer noch in Bestform. Alles Gesagte wird aufgeschrieben. Alles Aufgeschriebene wird par coeur gelernt. Und das par coeur Gelernte wird an der Prüfung dann auf die erwartete Art intellektuell charmant performt. Transparenterweise kenne ich Schritt zwei und drei nur vom Hören-Sagen. Schritt eins ist aufgrund des akustisch äusserst penetranten Tastaturgehämmers nicht zu verkennen. Für eine Vorlesung habe ich dann mal ein etwas gemächlicheres Tempo ausprobiert, d.h. Stift und Papier. Ich habe schnell gemerkt, dass ich wohl am Performance-Stichtag erst an der Haltestellte ”bienvenue à la deuxième séance du semestre” halten würde und dafür hätten sich die Reisestrapazen nicht gelohnt.
In Frankreich ist man in Sachen Diktaten immer noch in Bestform.
Diesen Konnex zwischen Schritten eins bis drei auf dem Weg zum Endbahnhof “examen passé“ fand ich irgendwie paradox. Der Nachweis, ein Rechtsgebiet inhaltlich erfasst zu haben, erlangt scheinbar nur, wer alles Gesagte par coeur weiss. Eigentlich weiss man die Dinge nur für eine unbedeutend kurze Zeit par tête. Das Einzige, was das coeur dabei tut, ist zwei, drei Nächte zuvor im kardiologischen Night-Liner stressbedingt ein paar Stationen auf dem Alterungsprozess zu überspringen.
Die ersten Reihen aber waren anders – wie üblich, gerade in den Rechtswissenschaften. Es waren Aufmerksamkeitsmonster, die bis zur letzten Sekunde ihr sympathisches, dynamisches, aufgeschlossenes und konzentriertes Lächeln-Nicken performten – Hochleistungssport. Immer vorbereitet, immer die richtigen guten Fragen. Diese Fragen hatten auch etwas – wohl unbewusst – Solidarisches. Sobald die Dozierenden die Möglichkeit einer Exkurssafari durch ihre eigenen Forschungsprojekte, Literaturvorhaben und Meinungsbeiträge witterten, legte der Schnellzug einen etwas längeren Halt ein. Dies ermöglichte es dem schlechten Gewissen darüber, dass die Aufmerksamkeitsspanne keine Überzeit leistete – was ja bekannterweise nach 45 Minuten der Fall wäre – eine Verschnaufpause einzulegen und man konnte den Laptop aus seinem Stand-by-Modus-Urlaub wieder hochfahren mit der Hoffnung, der Widerstandskraft der Geschwindigkeit für die verbleibende Zeit zu widerstehen. Die Züge in Frankreich sind halt schon unglaublich schnell.
Aufmerksamkeitsmonster, die bis zur letzten Sekunde ihr sympathisches Lächeln-Nicken performten.
Die Hochleistungssportler*innen aber waren – selbstverständlich, da es um Ihre Fragen ging – umso angestrengter mit dabei. Ganz nach dem Motto: Es gibt kein schlechtes Wetter, nur schlechte Kleidung. Ein Dreiteiler; Anzug mit Jacket, Hosen und Weste. Man konnte sich fragen, wann diese Leute noch Zeit fanden, all die Suits Staffeln anzuschauen, ohne diese Sie nämlich hätten wissen können, dass ein Dreiteiler der Dresscode war für den Ausdruck von Intelligenz gepaart mit Elitezugehörigkeit.
Paris ist grundsätzlich verdammt teuer, und zwar aus ungefähr jeder mittelständischen europäischen Perspektive, ausser der unseren. Eine Zweizimmerwohnung innerhalb der Péripherie in Paris kostet ungefähr gleich viel wie eine vergleichbar grosse Wohnung in Bern. Das Durchschnittseinkommen in der Schweiz beträgt hingegen mehr als das doppelte als das französische. Viereinhalbmal mehr als in Kroatien, siebenmal mehr als in Griechenland, siebzehnmal mehr als im Libanon. Alles Länder, die ihre Studis nach Paris entsenden. Konkret heisst das: Wenn eine renommierte Anwältin in Kroatien ca. 4’000 Franken verdient und ihrem Sohn für ein halbes Jahr eine Wohnung zahlen kann, die ein Viertel davon kostet oder wenn ein Durchschnittslohn im Libanon weniger beträgt als ein 14 Quadratmeter Studio in Paris monatlich kostet, erhält die Präzision des Begriffs “Austausch” eine neue Bedeutung. Auch dies ein Bild, das ich schnell revidieren musste. Der universitäre Austausch steht nur den wenigsten offen. Es waren jene, deren Eltern es sich leisten konnten. Dementsprechend war die Gruppe an “Austauschstudent*innen” auch erschreckend monoton. Meinungen, Werteverständnisse, kulturelle, geschweige denn sozioökonomische Perspektiven wurden nicht ausgetauscht, da nicht vertreten. Die Diversität hielt sich in Grenzen. Ja nicht einmal Fashion-Statements wurden verhandelt, dazu später mehr.

Den einen gefällt das Bild der alten Holzbänke, den anderen was draufgekrizzelt ist – ambivalent halt.
In der englischen und hierzulande modernerweise auch der deutschen Bedeutung trifft aber das Credo “Austausch“ den Puls vieler Erasmusstudis, wie ich sie erlebt habe. Vielen ging es um “Networking“. Ich habe kaum meine Zigarette in der ersten Pause angezündet, da stieg die Wachstumsrate meiner ansonsten bescheidenen Instagram Anfragen in Influencer Höhen und mein Netzwerk an potentiellen Feriendestinationen glich der AirBnB-Plattform, gemessen an all den mehr usanzgemäss ausgesprochenen als wirklich an mich gerichteten “yeah, you really have to visit me once“. Meine Zurückhaltung durch die Ferne zur Modebranche und die haftungsrechtliche Feigheit verriet mich in solchen Runden als nicht qualifizierten Vertreter des Berner Tourismus. Ich wusste erstens nicht, wie teuer all diese Pelzmäntel, Uhren oder Taschen waren, bin mir aber sicher, dass an den Orten, die ich in Bern für Besuchende erlebenswert finde, diese weder Diebstählen noch pelzmantelphoben Flüssigkeiten entkommen würden.
Paris, ein Sammelsurium der Ambivalenzen
Spätestens als ich dann von der Uni mit der Tram in das kalte und schnörkellose besetzte Haus fuhr, wo ich die ersten paar Tage übernachten durfte, klafften grosse Löcher zwischen den erlebten Bildern. Zu gross war auch meine eigene Ambivalenz abseits der Kommiliton*innen und der Universität Paris Panthéon Sorbonne Paris I – oder so. Im einen Moment fühlst du dich als Exote, weil du Harvey Specter nicht erzählen willst, dass du in einem besetzten Haus wohnst. Dort angekommen weisst du dann nicht, was du aus deinem Alltag in der Schweiz erzählen sollst, wenn die meisten Leute sich dort mit der eigenen Prekarität aufgrund von Aufenthaltsstatus, Geld, Repression oder der, der anderen beschäftigen. Dann fühlst du dich irgendwie wie am Black Friday auf dem Bazar der Realitäten, die so vorwurfsvoll anders sind als deine. Nie dagewesene unterbewusste Mechanismen und Muster können zu ungefragten Begleitern werden. An jedem Tag läufst du in deinem 5vor-Gentrifiziertem-verhippstertem Viertel zur Metro und siehst in der Hälfte der Leute, die du in dem Strassenstress überhaupt wahrnehmen kannst, wandelnde soziale Kontraste. Die eine Mutter, die Tentakel statt Hände haben muss, anders wäre nicht erklärbar, wie sie alle drei Kinder in dieser Nonchalance an den Lebensgefahren der Pariser Strassen vorbeidribbelt, während sie irgendwie noch den Kinderwagen über jedes barriereunfreie, viel zu enge Trottoir jongliert. Dann der Typ an der Bar, der deinen Namen kennt und du seinen. Du, weil du denkst, du seist ein Local wie er. Er, weil er seinen halb so gut bezahlten Job gut machen will. Wegen Kundenbindung, familiärem Umfeld und solchen Dingen, die man halt haben muss, um als sympathisches Café neben den pastellfarbenen Rice-Bowl, Randen-Pizza und Matcha-Latte-Chocochino-Topping Tempeln zu bestehen.
Es klafften Löcher zwischen den erlebten Bildern.
Dieses ständig laufende Karussell der Bilder und Dissonanzen fremder und eigener Bilder stellt den ganzen Tag die Grundlagen deiner Überzeugungen in Frage.
Im ersten Moment ist das Eingestehen dieses Andersseins für das Selbstbild auch beruhigend. Anders als Harvey und die “Studis“. Irgendwann stellt sich aber dann die dieser Abgrenzung gegen aussen innewohnende Absurdität in den Weg. Denn auch ich kann mir eine Wohnung leisten in Paris. Und im Gegensatz zu einigen Kommiliton*innen kann ich mir die Zeit leisten, über diese doofen Pelzmäntel nachzudenken oder nachts allein nach Hause zu laufen. Ich habe auch das Glück, autonomer über Geld, meine ECTS-Punkte oder meine Eltern nachzudenken und bin nicht jemandes personifizierte Erwartung nach Investitionsertrag in Form der Altersvorsorge. Und schon kann sich das Bild des kritischen Exot*innen ändern und man fühlt sich wieder als Teil der “where are you from, what do you study”-Pfadi. Ein unangenehmes Bild.
Was übrig bleibt
Bevor ich mich auf den Weg machte, fand ich Paris zu laut, zu gross, zu schmutzig und unangenehm hektisch. Find ich eigentlich immer noch. Dennoch wurde mir bewusst, wie viel Freiheit und Privilegien in dieser Möglichkeit stecken, mich mit all diesen Bildern zu konfrontieren und sie auf den Prüfstand zu stellen. Die Bilder über mich selbst, wie ich funktioniere, wenn der herkömmliche komfortable Rahmen fehlt. Wenn die alltägliche Struktur plötzlich wegfällt und du selbst Initiative und Verantwortung trägst, um deine Zeit und dein Selbstbild zu managen. Bilder, die sich aus der Distanz und in einer anderen Umgebung plötzlich ganz anders verhalten. Bilder über die Universität als Institution, über die Rechtswissenschaften und über Studis. Bilder über meine Herkunft, meine Sozialisierung und meine Privilegien.
Vieles aus diesem Text hört sich vielleicht unangenehm an. Auch wenn anfangs beklemmend, fand doch irgendein Austausch statt. Ohne diesen würde ich mich vielleicht immer noch unpräzis zu den “Anderen“ zählen, wenn es um Geld, Möglichkeiten und Privilegien geht. Die Trennlinien wären mir in der anfänglichen Deckkraft vielleicht immer noch identitätsstiftende und komfortable Ausgangslage für mein Verständnis von Richtig und Falsch.
Und doch war das der Austausch, den ich erlebte. Der Austausch von meinem Selbst in sicherer, bekannter und vertrauenswürdiger Umgebung mit dem Selbst in dieser ständigen Konfrontation. Es ist ein allumfassender und unkontrollierter Realitätscheck. Du tauschst ständig die Rolle. Einmal ein “anderer“, “kritischer“ Studi, einmal Beobachter, einmal situationsbedingt in der Minderheit, während du eigentlich in der Mehrheit bist. Einmal selbst Touri und irgendwann kommst du nach einem Besuch in Bern zurück und fühlst dich am Gare de Lyon irgendwie zu Hause. Auch wenn man Hintergrund, Biographie oder Sozialisierung nie austauschen kann, bleibt mir die unschätzbare Freiheit, Zeit zu haben, mich verschiedensten Bildern auszusetzen, darüber nachzudenken und im besten Fall auch darüber nachzudenken, wie ernst ich mich als deren Künstler nehme.
article 49.3
Dieser Gesetzesartikel gilt als Brechstange oder Joker der französischen Regierung. Mit diesem Paragraphen kann sie ein Gesetz ohne parlamentarische Abstimmung durchsetzen. Auf diese Weise schaffte es Emmanuel Macron im März diesen Jahres, die umstrittene Rentenreform umzusetzen. Dies führte zu wochenlangen landesweiten Protesten. Die Müllabfuhr streikte, die Metros blieben in den Depots und die Universität wurde entweder besetzt oder wegen Sicherheitsrisiken geschlossen.