«Dagegen müssen wir uns wehren, die Studienwahl muss frei bleiben.»

Christoph Eymann. Bild: Angela Krenger

Christoph Eymann. Bild: Angela Krenger

15. Dezember 2015

Von und

Ein Gespräch mit dem Bildungsdirektor Christoph Eymann über die freie Wahl des Studiums, gesellschaftliche Bedürfnisse und die Nachfrage der Wirtschaft. Der 64-jährige Jurist ist Regierungsrat im Kanton Basel-Stadt und Präsident der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren EDK.

Herr Eymann, was zeichnet das Schweizer Bildungssystem besonders aus?

Dass wir einen prüfungsfreien Zugang zu höheren Bildungsinstitutionen haben. Bezogen auf die Uni heisst das, dass man mit dem Maturazeugnis freien Zugang an jede Hochschule hat. Eine besondere Stärke ist zudem die Durchlässigkeit des Systems. Es gibt keine Sackgassen. Man kann von einer Berufslehre per Weiterbildungen an Hochschulen studieren. Das ist eine enorme Leistung.

Die SVP, zum Beispiel im Vorstoss von Ueli Augstburger, sieht Handlungsbedarf. Er will die Berufslehre stärken und gewisse Studiengänge verkleinern, damit andere, zum Beispiel technische Studiengänge, gefördert würden. So gäbe es dann mehr Techniker. Sehen Sie auch Handlungsbedarf?

Überhaupt nicht in diese Richtung. Wenn es Handlungsbedarf gibt, dann muss dies über die Information junger Menschen geschehen. So gesehen halte ich gar nichts von diesem Vorstoss. Erstens läuft er dem wichtigen Prinzip der freien Wahl zuwider, die zusätzlich durch die interkantonale Universitätsvereinbarung gefördert wird. Denn wenn beispielsweise die Universität Bern einen bestimmten Studiengang nicht anbietet, kann dieser in einer anderen Stadt studiert werden und der Kanton Bern bezahlt dafür.

Zudem ist es eine völlig falsche Vorstellung, dass eine Einschränkung der Geistes- und Sozialwissenschaften zu mehr Studierenden technischer oder naturwissenschaftlicher Studiengänge und so zu mehr MINT-Fachkräften führen würde.

Ich zum Beispiel habe die Prüfung fürs Medizinstudium nicht geschafft. Danach habe ich Recht studiert. Hätte es eine Zugangsbeschränkung für Jura gegeben, wäre ich trotzdem nicht Ingenieur geworden, denn in Mathematik bin ich zu schlecht und wäre so ein schlechter Techniker. Die Politik sollte nicht steuern, was die Leute studieren dürfen. Sonst sind wir nahe bei der Planwirtschaft.

Die Studienwahl junger Leute soll vermehrt von den persönlichen Fähigkeiten und dem Arbeitsmarkt geprägt sein. So die Erklärung 2015 der EDK. Das sind zwei ganz verschiedene Kriterien, können beide gleichzeitig berücksichtig werden?

Wahrscheinlich nicht gleichwertig. Das Motiv dahinter ist, dass nicht völlig am Bedarf vorbei Leute ausgebildet werden sollen. Es macht – um ein überzeichnetes Beispiel zu nennen – wenig Sinn, dass Astronauten zu dreihunderten ausgebildet würden, wenn für sie gar keine Chance besteht, anschliessend als Astronaut tätig zu sein.

Ich bin persönlich sehr skeptisch, wenn es um die Anliegen der Wirtschaft geht. Natürlich ist es wichtig, dass Chancen zur Berufsausübung bestehen. Aber gerade in der heutigen Zeit verlangt die Wirtschaft von den Leuten oft zwei oder drei Ausbildungen sowie zahlreiche Weiterbildungen. So entstehen interessante Werdegänge. Deshalb arbeiten Psychologen nicht nur als Therapeuten, sondern auch im Human Ressource Bereich oder in Konzernleitungen. Zudem weiss man nicht, welche Bedürfnisse die Wirtschaft haben wird, wenn in fünf Jahren die jetzigen Studierenden fertig sein werden.

Sozialwissenschaftler sind mehr als alle andern Hochschulabsolventen Generalisten. Sehen Sie darin ein Problem?

Überhaupt nicht, im Gegenteil. Unsere Gesellschaft krankt eher, wenn ich es überspitzt formuliere, an Fachidiotentum; dass jemand nicht über den Tellerrand seiner eigenen Ausbildung schaut.

Für mich ist es ganz wichtig, dass die Vielfalt angebotener Fächer nicht auf eine aktuelle Mangelsituation in der Wirtschaft abgestimmt wird. Es darf nicht aus der Not heraus, die unter anderem aus der Masseneinwanderungsinitiative entstanden ist, zu «Hau-Ruck»-Reaktionen kommen, um Leute in bestimmte Studiengänge zu drängen. Also kein «Du wirst jetzt Ingenieurin und du Architekt et cetera». Dagegen müssen wir uns wehren, die Studienwahl muss frei bleiben.

Wie verhält es sich mit der Qualität der Studiengänge. Könnte deren Qualität durch Aufnahmeprüfungen verbessert werden?

Ich bin da etwas gespalten. Auf der einen Seite verteidige ich den Eintrittstest in die Medizin. Ich finde diesen humaner, als wenn im ersten Studienjahr die Hälfte der Studierenden ausgesiebt wird. In der Medizin wurde der Numerus clausus aufgrund begrenzter Kapazität und Infrastruktur eingeführt. Über 80 Prozent von denen, die ihn bestehen, machen das Studium fertig. Er ist offenbar auf die Studienkompetenzen, die Ende Studium vorhanden sein sollen, gut ausgerichtet. Er sagt aber nichts darüber aus, ob jemand ein guter Arzt oder Ärztin wird, also wie er oder sie mit den Patienten umgeht.

Grundsätzlich sollten nicht vermehrt Aufnahmeprüfungen eingeführt werden. Die jungen Menschen unterscheiden sich in ihrer Entwicklungsgeschwindigkeit. Es kann sein, dass jemand zum Zeitpunkt der Eintrittsprüfung für diese noch nicht bereit war oder ihn seine Interessen erst während des Studiums zu Höchstleistungen antreiben. Diese Freiheit in der eigenen Entwicklung, finde ich, sollten wir nicht aufheben. Bologna hat das Studium bereits stark normiert.

 

Christoph Eymann. Bild: Angela Krenger

Christoph Eymann. Bild: Angela Krenger

Die Nachfrage von Gesellschaft und Wirtschaft wird oft in einem Atemzug genannt. Ist das dasselbe?

Ich sage es mal so: der Auftrag, aufs Berufsleben vorzubereiten, ist ein Teil des Auftrags der Volksschule. Der generelle Auftrag ist aber, dass aus den Kindern mündige Menschen werden, die ihr Leben selbstbestimmt führen können. Das bedeutet weitaus mehr als berufsfähig zu sein. Die Bedürfnisse der Wirtschaft sind ein Teil der Bedürfnisse der Gesellschaft. Die Gesellschaft hat auch ein Bedürfnis nach Menschen, die friedlich und respektvoll miteinander umgehen, die Gemeinschaften bilden, nicht nur beim Bezahlen der AHV und sonstiger, gesetzlich verordneter Solidarität. Sondern, dass wir wissentlich und willentlich friedlich miteinander umgehen und miteinander klarkommen, dies nur ein Beispiel.

Was denken Sie, gibt es wirklich zu viele Maturanden? Und wenn man ihre Zahl herunterschrauben würde, gäbe es dann mehr Berufslehrlinge?

Nein, ich glaube nicht, dass dem so wäre. Wir müssen aber auch aufpassen, dass es sich nicht in die falsche Richtung entwickelt. In Deutschland wird seit kurzem das Abitur für eine Banklehre vorausgesetzt. Das finde ich schlecht, denn es hindert jene, die eine kaufmännische Berufslehre machen wollen daran, in einer Bank zu arbeiten. Und es ist unklar, warum eine solche Lehre in der Verwaltung, aber nicht in einer Bank möglich sein sollte. Die Berufslehre muss gestärkt werden.

Wäre ein System denkbar, in dem Personen ohne tertiären Abschluss in höherer Stellung tätig sind?

Das ist heute so. Es muss gezeigt werden, dass man auch per Berufslehre weit kommt. Dann muss man bedenken, dass es nicht allen um den Verdienst geht, sondern beispielsweise um eine gute Work-Life-Balance. Hier spielt auch das soziale Prestige der Berufe eine Rolle, an dem wir arbeiten sollten. So zum Beispiel an der Vorstellung, dass die Tochter oder der Sohn à tout prix ans Gymnasium muss. Daran zu arbeiten ist aber eine gesellschaftliche Aufgabe, nicht jene der Schule, hier sind die Eltern in der Pflicht.

Wie erklären sie sich, dass Umfragen wie zum Beispiel jene im 20 Minuten zeigen, dass über die Hälfte der Befragten finden, es gebe zu viele Maturanden. Woher dieser schlechte Ruf?

Vielleicht ist der Begriff «Maturand» negativ belegt, weil er mit überheblich oder wohlbetucht oder siebengescheit gleichgesetzt wird.

Verstehen Sie die Forderung, dass Studienabgänger, so schnell wie möglich arbeiten sollen, weil sie den Staat sonst zu viel kosten?

Ich finde die Diskussion darüber, dass Studierende sehr privilegiert sind, da sie zum Grossteil durch Steuergelder subventioniert werden, nicht falsch. Jemand mit Berufslehre muss viel selber bezahlen, so auch die Weiterbildung zum Meister. Vom Gerechtigkeitssinn her, fände ich es gut, dass auch die höhere Berufsbildung bezahlt würde.

Es ist wichtig und sie sprechen hier etwas indirekt an, wir müssen darauf Acht geben, dass unsere Bevölkerung nicht nach Berufsmöglichkeiten und –chancen sortiert auseinanderdriftet, sondern dass die Grundsolidarität bestehen bleibt. Nicht dass es wieder zu Klassendenken kommt.

Kinder aus bildungsnahen Familien schliessen mit grösserer Wahrscheinlichkeit einen Hochschulabschluss ab als andere. Ist das noch so?

Ich glaube, leider ist es so. Eine Lehrerin berichtete mir kürzlich, es sei oft noch der Fall, dass die Befrachtung des Büchergestells der Eltern viel über die Bildungschancen der Kinder aussage. Da sind die Lehrer besonders gefragt, dass sie erstens das Potenzial von jungen Leuten erkennen und es zweitens fördern – auch gegen den Willen der Eltern. Es gibt auch das Gegenteil der Eltern, die ihr Kind à tout prix ans Gymnasium bringen wollen. Eltern die meinen, das schaffe ihr Kind sowieso nicht, da noch niemand in der Familie am Gymnasium war. Dort muss man ansetzen, um mehr Chancengerechtigkeit zu erreichen. Ich finde das Wort Chancengerechtigkeit passender als Chancengleichheit. Chancengerechtigkeit heisst, dass Kinder und Jugendliche entsprechend ihrer Fähigkeiten gefördert werden. Das ist eine wichtige Schulaufgabe.

 

 

Dieser Beitrag erschien in der bärner studizytig #2 Dezember 2015

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