Schlechte Noten für die Schweiz

Wer wird später mal studieren? Diese Frage lässt sich anhand weniger Informationen über das Elternhaus mit hoher Treffsicherheit beantworten. Im Bild: Kinder-Uni in Basel. bild: universität basel

04. März 2019

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Von wegen Erfolgsmodell: In kaum einem anderen Land geben die Eliten ihre Bildungsprivilegien so konsequent an ihre Kinder weiter wie in der Schweiz. Dies zeigt eine neue Studie.

Es gibt hierzulande eine gern erzählte Geschichte, es ist die Geschichte des dualen Bildungssystems. Einer, der diese Geschichte besonders gerne mag, ist der ehemalige Bildungsminister Johann Schneider-Ammann. Er erzählt sie dem Präsidenten der USA, dem König von Belgien, den Regierungen von Mexiko, Singapur und Serbien. Er erklärt ihnen, dass das Bildungssystem der Schweiz erfolgreich Theorie und Praxis verbinde, flexibel auf die Bedürfnisse der Wirtschaft reagiere, dass es einzigartig, weltmeisterlich, durchlässig sei. «Kein Abschluss ohne Anschluss», sagte Schneider-Ammann etwa. Vor einiger Zeit versprach er einer Gruppe von Lehrabschlussabsolvent_innen, dass ihnen im Schweizer Berufsbildungssystem fast alle Türen offen stünden – sofern sie motiviert und interessiert seien.

Eine gute Theorie macht noch keine Praxis.

 

Allein, so ganz stimmt diese Geschichte nicht. Zwar gewährt in der Schweiz fast jeder Bildungsabschluss rechtlich Zugang zu weiteren Bildungsgängen. Nur, durchlässig ist dieses System deshalb noch lange nicht. Denn Sein und Sollen ist nicht dasselbe. Oder, um die Worte des Altbundesrats zu bemühen: Eine gute Theorie macht noch keine Praxis.

Dies verdeutlicht eine neue Studie der Bildungssoziologen Rolf Becker und Jürg Schoch, welche vom Schweizerischen Wissenschaftsrat in Auftrag gegeben wurde. Sie zeigt: Tatsächlich sind die Bildungswege in kaum einem anderen Land so stark vorbestimmt wie in der Schweiz. Nach Deutschland ist die Schweiz Vize-Weltweltmeisterin, wenn es um die Reproduktion der Bildungsverhältnisse der Eltern geht. Konkret bedeutet dies: Fast nirgends lässt sich mit ähnlich hoher Treffsicherheit und anhand weniger Informationen über das Elternhaus auf den Bildungsabschluss eines Kindes schliessen. Verfügt der Vater über einen Lehrabschluss, so ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass auch der Sohn eine Lehre absolviert. Hat der Vater hingegen studiert, arbeitet in einem akademischen Beruf und schickt seinen Sohn zum Geigenunterricht, so wird wohl auch dieser studieren. Dies zeigt die Statistik.

Doch weshalb ist das so? Wie war das nochmals mit der Durchlässigkeit? Und weshalb wird der besorgniserregende Befund der Studie kaum öffentlich thematisiert?

Die Illusion der 
Chancengleichheit

Die Autoren der Studie fokussieren bei der Beantwortung dieser Fragen auf die Bildungsübergänge: Überall dort, wo in unserem Bildungssystem eine Selektion stattfindet, orientiert sich diese Selektion nicht nur am Leistungsprinzip, sondern ebenfalls am Prinzip der sozialen Selektivität. Schulische Selektionsverfahren bilden demnach nicht nur Leistungsgruppen, sondern führen ebenfalls dazu, dass unsere Schulklassen von Schulstufe zu Schulstufe sozial homogener werden. Daran Schuld hat einerseits die überproportional starke Förderung sozial privilegierter Schüler_innen, welche beispielsweise durch Aufgabenhilfe oder private Frühförderung erfolgen kann und sich in besseren Noten niederschlägt. Eine Mitschuld trägt andererseits die ungleiche Bewertung gleicher Leistungen: Sozial benachteiligte Schüler_innen werden bei gleicher Leistung schlechter benotet und werden seltener für den akademischen Weg empfohlen, als ihre sozial privilegierten Mitschüler_innen. Die Schweiz hat also nicht nur ein Problem der ungleichen Förderung, sondern ebenfalls mit diskriminierender Leistungsbewertung. Doch weshalb ist dieses Problem in der Schweiz dermassen ausgeprägt?

Verfügt der Vater über einen Lehrabschluss, so ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass auch der Sohn eine Lehre absolviert.

 

Die Autoren der Bildungsstudie führen hier mehrere Gründe ins Feld. Einerseits stellen sie bereits eine Schieflage bei den Startchancen der Kinder fest: Die Teilhabe an frühkindlicher Bildung differiert ebenso zwischen sozialen Schichten und ethnischen Gruppen, wie die Auswahl der Primarschulen. Anders als in vielen europäischen Ländern ist die flächendeckende Bereitstellung frühkindlicher Bildung in der Schweiz relativ schwach ausgeprägt. Andererseits wird diese Leistungskluft nach der allgemeinen Einschulung nicht nivelliert, vielmehr zeichnet sich in den ersten Schuljahren eine sich öffnende Leistungskluft zu Ungunsten sozial benachteiligter Kinder ab. Diese Kluft wird durch die im europäischen Vergleich sehr früh erfolgende und für den weiteren Bildungsverlauf sehr bedeutsame Weichenstellung zwischen Primarstufe und Sekundarstufe weiter zementiert. Mit jedem weiteren Bildungsübergang setzt sich diese soziale und ethnische Homogenisierung der Schüler_innen in geringerem Masse fort, auch im Verlaufe des Hochschulstudiums.

Bildung als soziale Schaltstelle

Das Schweizer Bildungssystem hat ein Problem. Bei vergleichbarer Begabung und Anstrengung bevorzugt unser Bildungssystem privilegierte Bevölkerungsgruppen, während es Personen mit tiefem sozioökonomischem Status stark benachteiligt. Diese Feststellung verweist nicht einfach auf eine nebensächliche Dysfunktionalität eines ansonsten intakten demokratischen Gemeinwesens, vielmehr spricht sie einen zentralen Punkt unserer Gesellschaft an. Dies deshalb, weil das Bildungssystem in der sogenannten Wissensökonomie den Standort der «zentralen Dirigierungsstelle von Lebenschancen» (Helmut Schelsky) einnimmt: Es gibt kaum eine soziologische Kategorie, welche mit ähnlicher Zuverlässigkeit über Einkommen, berufliche Stellung, Arbeitslosigkeit oder Lebenserwartung einer beliebigen Person Auskunft gibt wie die Kategorie des Bildungstitels. Bildung stellt eine der wichtigsten sozialen Fragen unserer Zeit dar.

Was wären mögliche Lösungsansätze? Das Hauptproblem sehen die Autoren bei der frühen Selektion. Um die soziale Ungleichheit von Startchancen zu verringern, müsste frühkindliche Förderung allgemeiner zugänglich sein. Weiter schlagen sie vor, den Übertritt in die Sekundarstufe um zwei Jahre nach hinten zu verschieben. Dieser sollte erst nach der 8. Klasse erfolgen, weil Schüler_innen in heterogenen Schulklassen egalitärer gefördert werden, was sich in besseren Noten ausdrückt. Vorgeschlagen werden ausserdem gezielte Förderprogramme: Mentoring- und Beratungsangebote, der Ausbau des Stipendienwesens oder die Abschaffung von Studiengebühren. Und schliesslich ginge es ebenfalls darum, anzuerkennen, dass die Definition schulischer «Leistung» immer eine politische Setzung beinhaltet: Was wir als soziale oder fachliche Kompetenz definieren, ist gesellschaftlich nie neutral, sondern entspricht gewissen Gesellschaftsgruppen mehr als anderen. Von solchen Auseinandersetzungen ist die offizielle Schweiz allerdings noch weit entfernt. Jedenfalls, wenn man Johann Schneider-Ammann als deren Vertreter ernst nimmt.

 

Rolf Becker und Jürg Schoch: Soziale Selektivität. Empfehlungen des Schweizerischen Wissenschaftsrates SWR. 2018

 

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Dieser Text erschien in der bärner studizytig #15 März 2019

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