Mein Schattenplatz #1

mein_schattenplatz

Illustration: Moritz Koller

10. August 2017

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Mein Schattenplatz ist kein Ort, der Sonntagnachmittag mit dem Rucksack bewandert werden kann, also zieh deine Socken wieder aus.

Obwohl nicht unweit von mir zwei sehr erholsame und schattige Plätze liegen, besuche ich diese mittlerweile immer seltener. Als Begründung schiebe ich problemlos die «Sorry, Ich habe keine Zeit»-Floskel vor, worauf sich ja schlecht jemand beschweren könnte. Trotzdem braucht jeder Mensch seinen Ausgleich, bei dem er sich zurückziehen und erholen kann. Dabei geht es aber nicht unbedingt um jemandes Hobbies oder Engagements, die oftmals energieraubender sind als der Alltagstrott. Mir geht es um die Zeit, die wir uns für uns selbst nehmen. Wir sind so sehr damit beschäftigt, irgendwelche To-do-Listen abzuarbeiten und Länder zu bespringen, dass wir bei fünf Minuten medienfreier, arbeitsfreier, ausgangsfreier, such-dir-selbst-was-aus-freier Zeit in eine temporäre Depression verfallen. Hier richte ich einen speziellen Gruss an den Autofahrer, der letzten Donnerstag bei einer roten Ampel auf der Nebenfahrbahn seine Facebook-Timeline checkte. I like! Es erstaunt mich auch jedes Mal, wie schnell bei vielen das Handy nach dem Einstieg ins Tram auf der Hand liegt. Als scheuten sie sich davor, sich kurz in ihre Gedankenwelt zurückzuziehen. Mein Schattenplatz liegt aber genau da: in Gedanken versunken.

Wer bin ich?

Ich geniesse es vor mich hin zu denken und mich mit mir auseinanderzusetzen, weil – auch auf die Gefahr hin, dass es esoterisch klingt – ich dadurch zu mir selbst finde. Erstens renne ich nicht vor meinen Problemen davon, die mich sowieso irgendwann einmal einholen würden. Auch nicht unbewusst, weil ich mich mit meinen Mängeln konfrontiere und mich kritisch hinterfrage: «Ist dies und jenes wirklich erstrebenswert?» Zweitens schätze ich mich dadurch selbst wert, weil ich mir Zeit widme und meinen Gedanken Platz biete. Die «Sorry, Ich habe keine Zeit»-Ausrede zieht hier nicht, denn dieser Schattenplatz liegt nicht weit. Ein weiterer Vorteil liegt darin, dass ich überall hin kann, wo immer ich bin und wann immer ich will. Ob zurück zu den erholsamen Stunden am karibischen Meer oder zur warmen Umarmung meiner Grossmutter. Erinnerungen, die mich daran erinnern, wer ich bin. Wir sind so sehr damit beschäftigt Neues zu erleben, dass wir vergessen Altes wertzuschätzen, und dabei meine ich nicht deinen Fubu-Pullover oder deine Retrobrille. Letztlich verbringen wir die meiste Zeit mit uns selbst auf der Welt und sollten uns deshalb auch gelegentlich nur mit unserem eigenen Ich an einen Schattenplatz setzen.

 

In der Sommerserie «Mein Schattenplatz» schreiben die Autorinnen und Autoren der bsz in Form eines Kommentars über ihren persönlichen Schattenplatz.

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Leo van Heussen
12. August 2017 9:30

Schöne Idee, schöner Artikel!