Auf dünnem Eis: freie Forschung in Belarus

Seit Monaten ziehen Protestierende wöchentlich durch die Strassen von Minsk. Foto: zvg

19. Dezember 2020

Von

Kritisches Denken existiert – selbst in autoritären Staaten. Ein Beispiel dafür ist die Minsk Dialogue-Initiative. Diese Freiheit wird in Belarus nun aber auf die Probe gestellt.

Massenproteste, unrechtmässige Verhaftungen und immer wieder Polizeigewalt – in Belarus haben sich die Ereignisse in den letzten Monaten überschlagen. Auch die kritische Wissenschaft ist dabei unter Druck geraten. Den Student*innen und Forscher*innen, die sich gegen das Regime äussern, drohen Haftstrafen. Ausländische Hochschulen zeigen sich solidarisch mit den belarusischen Wissenschaftler*innen. Doch welche Unterstützung können Schweizer Universitäten der Forschungsfreiheit in Belarus bieten?

Proteste gegen Wahlfälschung

Ausgangspunkt für die Unruhen waren die Präsidentschaftswahlen vom 9. August. Schon kurz nachdem die Zentrale Wahlkommission erste Hochrechnungen bekannt gegeben hatte, regte sich in Teilen der belarusischen Bevölkerung Widerstand. Grund dafür war das einseitige Resultat: Der amtierende Präsident Alexander Lukaschenko soll die Wahl mit angeblich rund 80 Prozent Zustimmung für sich entschieden haben.
Dabei gibt es Beweise, die diesem Narrativ widersprechen.

Die Proteste halten an. Doch Lukaschenke hält sich weiterhin mit aller Gewalt an der Macht.

Protokolle einzelner Wahlkommissionen am Wahltag zeigen, dass dieses Resultat unmöglich der Realität entspricht. Im Gegenteil: Sämtliche Indizien sprechen für den Wahlsieg der Oppositionskandidatin Swetlana Tichanowskaja.
Wirklich überraschen tun diese Ereignisse niemanden. Belarus gilt als letzte Diktatur Europas: Lukaschenko hält sich seit 1994 an der Macht und lässt weder eine echte Opposition noch zivilgesellschaftliche Strukturen oder einen fairen Rechtsstaat zu. Oppositionelle Politiker*innen werden regelmässig grundlos verhaftet, so beispielsweise Sergej Tichanowskij, Ehemann der Oppositionskandidatin.

Doch diesmal schien Lukaschenko die Lage unterschätzt zu haben. Im Anschluss an den Wahltag entstand im ganzen Land eine grosse Protestbewegung. Über den Messenger-Dienst Telegram
wurden tausende Belarus*innen mobilisiert, die seither regelmässig für faire Wahlen und gegen das Regime protestieren.
Die Sicherheitskräfte antworteten auf die Demonstrationen mit Gewalt. Bilder von Menschen, die mit Schlagstöcken verprügelt werden, gingen um die Welt. Berichte dokumentierten Folter und Misshandlung von Gefangenen. Laut der UNO wurden in der Woche nach den Wahlen über 7000 Demonstrant*innen verhaftet.
Die Proteste halten bis heute an. Sonntag für Sonntag gehen in Minsk und anderen grossen Städten Menschen auf die Strasse. Doch Lukaschenkos Regime hält sich weiterhin mit aller Gewalt an der Macht.

Eine wissenschaftliche Beziehung

Benno Zogg, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Center for Security Studies (CSS) der ETH Zürich, hat die Geschehnisse in Belarus eng verfolgt. Für ihn waren die vergangenen Monate ein stetes Auf und Ab. «Es gab Streike, riesige Protestmärsche und ich wusste nicht so genau, wie ich das einordnen soll. Ist die Revolution jetzt da? Ist Lukaschenko morgen weg? Oder ist das nur eine Momentaufnahme?» beschreibt Zogg.

Kürzlich hat Präsident Lukaschenko die Universitäten dazu aufgefordert, die Student*innen im Falle einer Protestteilnahme zu exmatrikulieren.

 

Zogg hat sich im Rahmen seiner Arbeit auf Belarus spezialisiert und das Land mehrmals besucht. Er betont, dass es in der heutigen Krisensituation zentral sei, die bestehenden Beziehungen aufrecht zu halten, um die Lage analysieren zu können. «Die persönlichen Kontakte vor Ort sind wichtig, um ständig ein Gefühl dafür zu haben, was vor Ort wirklich vor sich geht», sagt er.
Dazu hat Zogg vor einigen Jahren eine Partnerschaft zwischen seinem CSS und der Minsk Dialogue-Initiative hergestellt. Dabei handelt es sich um eine NGO, die sich auch als Think-Tank und angewandtes Forschungsinstitut versteht. Zogg fungiert im Expertenrat von Minsk Dialogue und hat an mehreren Workshops und Konferenzen teilgenommen.

Benno Zogg (Mitte) an einem Dialogue-Workshop zu Neutralität im November 2018. Foto: zvg

Minsk Dialogue wurde 2015 gegründet und hat seither regelmässig wissenschaftliche Diskussionsformate und grosse Konferenzen mit bis zu 500 internationalen und belarusischen Teilnehmer*innen organisiert. Am Minsk Dialogue Forum 2019 war auch Präsident Lukaschenko unter den geladenen Gästen. Dies entspreche der Logik von Think-Tanks, meint Zogg. «Sie soll Experten aus der Think-Tank-Welt und der Akademie mit «Policy-Makern» zusammenbringen, also Entscheidungsträgern aus Verwaltung, Diplomatie und multilateralen Organisationen», sagt er. Dabei gehe es um den Austausch zwischen diesen Welten. Minsk Dialogue publiziert regelmässig analytische Berichte, Kommentare und Hintergrundinformationen zu politischen Entwicklungen in Belarus und Osteuropa.

Auch in Russland gibt es Spielraum

Dass das unter einem autoritären Regime möglich ist, überrascht auf den ersten Blick. Doch der Nachbar Russland beweist, dass akademische Freiheiten in Ländern mit autoritären Regierungen sehr wohl möglich sind. Carmen Scheide, Dozentin für osteuropäische Geschichte an der Universität Bern, hat im Rahmen verschiedener Forschungsprojekte regelmässigen Kontakt mit russischen Forscher*innen. Sie betont, dass wissenschaftliche Arbeit in Russland einen sehr hohen Stellenwert habe und man durchaus auch politisch heikle Themen diskutieren könne. «Ich habe beispielsweise zum Ukrainekonflikt in den letzten Jahren immer wieder Dialogformate veranstaltet und bewusst Russ*innen und Ukrainer*innen zusammen an einen Tisch geholt», sagt Scheide.

Auch das Publizieren von kritischen Beiträgen zu politischen Themen sei in Russland möglich. Als Beispiel nennt Scheide die Gesellschaft Memorial, eine russische Menschenrechtsorganisation. «Sie wurde zwar als ausländischer Agent tituliert und hat mit unangenehmen Durchsuchungen von der Steuerbehörde zu tun, kann jedoch frei publizieren», sagt sie.

Eliane Fitzé, Doktorandin für Slavistik an der Universität Fribourg, arbeitet im Rahmen ihrer Dissertation mit russischen Forscher*innen zusammen. Auch sie hat den Eindruck, dass kritische Forschung in Russland grundsätzlich möglich sei. Jedoch zensieren sich Wissenschaftler*innen häufig selbst, beobachtet sie. «Es gibt eine grosse Trennung in der Gesellschaft zwischen pro- und anti-Putin, auch in den gebildeten Kreisen», sagt Fitzé. Daher weiche man bei heiklen Themen oft aus.

Wissenschaftliche Werte in Bedrängnis

Eigentlich sah es in den letzten Jahren so aus, als würde sich Belarus vermehrt öffnen und an europäische Strukturen annähern. Das Land präsentierte sich weniger vom «grossen Bruder» Russland abhängig als früher und beabsichtigte, eine konstruktive Rolle in Europa zu spielen. So vermittelte Belarus beispielsweise im Krieg zwischen Russland und der Ukraine. Auch die Schweiz hatte ihre Kontakte zu Belarus zuletzt intensiviert. Aussenminister Ignazio Cassis war zu Jahresbeginn in Minsk. Er eröffnete dort die Schweizer Botschaft, welche zuvor nur ein Botschaftsbüro gewesen war.
Seit den belarusischen Präsidentschaftswahlen und den darauffolgenden Geschehnissen hat sich die Situation allerdings verändert. Die Schweiz hat die Taten des belarusischen Regimes verurteilt und sich den Sanktionen der Europäischen Union gegen rund vierzig Mitglieder des Machtapparates angeschlossen.
Die politisch angespannte Situation hat auch Minsk Dialogue in eine heikle Lage gebracht. «Die Forscher*innen mussten eine Balance finden, wie sie sich wissenschaftlich äussern und Dinge benennen können, ohne in eine politische Ecke gestellt zu werden», sagt Zogg. Dies sei aber keine Selbstzensur. Das zeige das Beispiel von Yauheni Preiherman, dem Direktor der Initiative: «Er spricht über die Gewalt der Sicherheitskräfte und dass viel Legitimität des Regimes verloren gegangen ist».

Lukaschenko soll weg – Protestierende am 16. August 2020 in Minsk. Foto: zvg

Vor wenigen Wochen fand auch das Minsk Dialogue Forum 2020 statt. Die belarusische Krise war dabei eines der Hauptthemen.
Die Situation belarusischer Forscher*innen soll jedoch nicht
beschönigt werden. Das wissenschaftliche Umfeld ist zu einem Hauptakteur in den anhaltenden politischen Unruhen geworden. Über 370 Student*innen wurden seit Anfang September verhaftet. Kürzlich hat Präsident Lukaschenko die Universitäten dazu aufgefordert, die Student*innen im Falle einer Protestteilnahme zu exmatrikulieren. Bis Mitte November kam es zu mindestens 128 Exmatrikulationen, so die Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde. Rektoren, welche die Ausschlüsse nicht unterstützten, wurden entlassen. Das Gleiche gilt für mehrere Wissenschaftler*innen, die sich kritisch geäussert hatten.

Solidarität aus dem Ausland

Breite ausländische Kreise verurteilen das Vorgehen der Regierung. Die European University Association und die European Students’ Union kritisieren die Ausschlüsse in einem Schreiben öffentlich. Die beiden Organisationen repräsentieren mehr als 800 Universitäten und rund 20 Millionen Student*innen.

«Ausländische Forscher*innen können indirekt durch Kontakte und die Einbindung des Landes und seine Institutionen etwas Positives leisten.»

 

Auch swissuniversities, der Dachverband der Schweizer Hoch­schulen, hat sich dieser Stellungnahme angeschlossen. Der Verband unterstützt Organisationen, die die Forschungsfreiheit weltweit zu schützen versuchen. Dazu gehören auch das Netzwerk «Scholars at Risk» und die Initiative «Universities for Enlightenment». «Die Beschneidung akademischer Freiheiten und universitärer Werte ist etwas, was man leider in den letzten Jahren auf globaler Ebene immer wieder sieht», sagt Clemens Tuor, Bereichsleiter für internationale Beziehungen bei swissuniversities.

Benno Zogg befürwortet, dass die akademischen Institutionen in Belarus aus dem Ausland Unterstützung erhalten. «Es ist wichtig, dass man es nicht nur der belarusischen Regierung überlässt, dort einzuwirken. Ausländische Forscher*innen können indirekt durch Kontakte und die Einbindung des Landes und seine Institutionen etwas Positives leisten».

 

Illustration: Lisa Linder

Eine Zusammenarbeit von belarusischen und ausländischen Forscher*innen erhöhe auch die Qualität der Berichterstattung, so Zogg. «Als Aussenstehender habe ich vielleicht den kühleren, distanzierteren Kopf. Die Leute vor Ort kriegen hingegen das Gefühl auf der Strasse mit, sind mit Emotionen dabei und haben mit vielen Leuten gesprochen. Kombiniert ergibt das ein differenziertes Bild».

Schweizer Wissenschaftler*innen sind gefordert

Die Annahme, dass eine Stärkung der akademischen Beziehungen zum Sturz Lukaschenkos führen würde, wäre allerdings völlig vermessen und überheblich. Es gehe in der belarusischen Krise schliesslich hauptsächlich um Innenpolitik, betont Zogg.Dennoch sind die interuniversitären Kontakte für Belarus wichtig. «Was wäre, wenn keine gemeinsamen Projekte mehr in Angriff genommen würden?» fragt Zogg rhetorisch. Aus seiner Sicht wäre es «fatal», würden keine Forschende mehr auf belarusische Universitäten zugehen, um zusammen etwas zu entwickeln.

Die akademischen Beziehungen zwischen der Schweiz und Belarus sind ausbaufähig. Ein Bericht des Schweizerischen Nationalfonds zeigt, dass dieser zwischen 1990 und 2016 nur gerade etwas mehr als eine halbe Million in Forschungsprojekte mit Belarus investiert hat. Zum Vergleich: Für Projekte mit der Ukraine hat der Fonds das rund Zehnfache ausgegeben. Auch das Schweizer Staatssekretariat für Bildung, Forschung und
Innovation (SBFI) hat kaum Gelder für Projekte mit Belarus gesprochen.
Eine Ausnahme bildete ein Workshop zur Rolle von Neutralität, der Ende 2018 in Minsk stattfand und von Zogg und Minsk Dialogue organisiert wurde. Dank Fördergeldern vom SBFI durften vier weitere Schweizer*innen daran teilnehmen, darunter auch Carmen Scheide.

Es wäre «fatal», würden keine Forschende mehr auf belarusische Universitäten zugehen, um zusammen etwas zu entwickeln.

 

Wie könnte die Schweiz also gezielt die akademische Zusammenarbeit mit Belarus fördern? Clemens Tuor von swissuniversities betont, dass die Forschungszusammenarbeit in der Kompetenz der Hochschulen liege und nicht zentral geregelt sei. «Der Impuls zur Intensivierung der Beziehungen zu Belarus würde nicht von uns kommen. Er würde von unseren Mitgliedern, von den Hochschulen kommen, wenn ein Bedürfnis existieren würde», sagt er.
Mehr Forscher*innen wie Zogg, Scheide und Fitzé, die in diesen Ländern Beziehungen aufbauen, sind also gefragt. «Die Forschung in einem Land profitiert immer davon, wenn es internationalen Austausch oder gar Unterstützung gibt», bestätigt Zogg. Es helfe, ein Land anzubinden, zu öffnen und bekannter zu machen.

Die Zusammenarbeit vermittelt auch akademische Werte, wie die Trennung von Wissenschaft und Politik. Es gebe viele kritische, wissenschaftliche denkende Menschen in Belarus, so Zogg. Es sei gut, dass ein paar wenige Think-Tanks wie Minsk Dialogue existieren. «Das macht das Bild um einiges besser und es ist schön, dass man ihre Beiträge auch lesen und hören kann», freut sich Zogg.
Mit der Aufrechterhaltung und Intensivierung der Beziehungen können Schweizer Wissenschaftler*innen ihren Teil dazu beitragen, dass dies so bleibt.

0 0 votes
Article Rating
Abonnieren
Benachrichtige mich zu:
0 Comments
Inline Feedbacks
View all comments