Wenn die Sicherheit zuschlägt

Sicherheit

Wenn die Sicherheit zuschlägt. Bild: Carlo Bischoff

15. Dezember 2015

Von und

Am Morgen kommt der Anruf vom Spital: Mike ist im Ausgang schwer verletzt worden. Er hat einen Schlag auf den Kopf bekommen, eine Vene im Hirn hat geblutet und er liegt im künstlichen Koma.

Am Nachmittag warten Mikes Eltern vor der Intensivstation. Seine Mutter sitzt auf einem Stuhl und nippt an einer Cola, um ihre Übelkeit einzudämmen. Sein Vater tigert herum, schaut immer wieder auf die Uhr und dann zur Schiebetür, hinter der irgendwo sein Sohn liegt. Was ist passiert? Mike ist nicht der Typ, der in Schlägereien verwickelt wird. Seit der Dreissigjährige selbst Vater geworden ist, hält er sich von Risiko und Adrenalin sowieso fern. Er springt nicht mal mehr von der Brücke in die Aare. Mikes Vater hat seit dem Morgen etliche Leute angerufen: Mikes beste Freunde, Mikes Schwestern, aber Antworten auf die Frage, was passiert ist, hat er nicht gekriegt. Das einzige, was er weiss, ist, dass Mike einen Schlag auf den Kopf bekommen hat – um vier Uhr früh, an der Bieler Zentralstrasse. Und dass er schwer am Hirn verletzt worden ist.

Immer wieder ertönt das «Wuschsch» der Schiebetür und Vater und Mutter lassen die Köpfe hochschiessen: einige Menschen in Weiss schieben sich an ihnen vorbei, mal grüssend, mal betroffen nickend, bis der junge Arzt kommt, der die Eltern zu ihrem Sohn begleitet.

Mike liegt mit geschlossenen Augen da, sein Brustkorb hebt und senkt sich im Rhythmus des Beatmungsgeräts. Längs auf seinem Kopf klafft eine Narbe, die mit Nahtklammern zugehalten wird. Neben ihm piepst ein Apparateturm. Mike lebt. Aber nach einer Verletzung wie Mike sie hat, sind dauerhafte Hirnschäden zu erwarten.

Wie ein nasser Sack

Eine Partygängerin hat alles mit dem Handy gefilmt: Gerangel vor der Tiffanys Bar, johlende Leute auf dem Troittoir, Mike steht auch dabei. Ein Türsteher vom Duo-Club fuchtelt zwischen den Leuten herum, ein zweiter kommt ins Bild gerast und springt – Fuss voran – einem der Streitenden in den Rücken. Dieser geht zu Boden, Mike macht ein, zwei Schritte zurück und steckt die Hände in die Hosentaschen. Dann der Schlag: Mike fällt nach hinten, seine Arme schiessen hoch, er landet wie ein nasser Sack auf der Strasse und knallt mit dem Kopf auf den Asphalt. Der Türsteher hat Mike niedergeschlagen.

Zeugen sagen, Mike wollte schlichten und er habe versucht, sich zu entfernen, als die Türsteher antrabten. Er hat es nicht geschafft. Bald kommen Ambulanz und Polizei. Der Täter wird von der Polizei abgeführt. Mike wird ins Regionalspital Biel gefahren und eine Stunde später fliegt ihn die Rega ins Inselspital. Hat der Türsteher Mike mit einem der Streitenden verwechselt? Oder wollte er einfach Dampf ablassen? Aus Notwehr hat er jedenfalls nicht zugeschlagen – das macht das Video ersichtlich. Die Staatsanwaltschaft ermittelt nun wegen schwerer Körperverletzung, eventuell fahrlässiger schwerer Körperverletzung. Vorerst gilt natürlich noch die Unschuldsvermutung.

Hat der Türsteher Mike mit einem der Streitenden verwechselt? Oder wollte er einfach Dampf ablassen?

Lücke in der Sicherheit

Wer für ein Sicherheitsunternehmen als Türsteher arbeitet, muss mindestens zwanzig Stunden Sicherheits-Ausbildung in der Tasche haben. Das schreibt der Gesamtarbeitsvertrag der Branche vor. Zwanzig Stunden Ausbildung – dieser Missstand dürfte auch der Politik aufgefallen sein. Ab 2017 tritt nun ein Konkordat in Kraft: Künftig müssen Angestellte von Sicherheitsfirmen regelmässig bei den Behörden antanzen und mittels Kreuzchen auf einem Multiple-Choice-Tests beweisen, dass sie für den Job geeignet sind. Zehn Kantone machen beim Konkordat mit, Bern geht aber eigene Wege. Im September stimmte der Grossrat für die Motion «Bewilligungspflicht für Private Sicherheitsfirmen umsetzen». Die Motion fordert Regulierungen rund um die Sicherheitsbranche. Gemäss Motionärin sollen die schwarzen Schafe aussortiert werden, weil es immer wieder zu wüsten Szenen komme, und gut arbeitende Unternehmen sollen geschützt werden. Wie das konkret umgesetzt wird, steht frühestens in zwei Jahren fest. Dann steht die Revision des Polizeigesetzes an, in das die Forderungen miteinfliessen sollen. Bis dahin können Türsteher weiter ungehindert rekrutiert werden. Insbesondere, wenn sie nicht für eine Sicherheitsfirma arbeiten, sondern bei Gastronomiebetrieben direkt angeheuert sind. Dies betrifft gemäss VSSU (Verband Schweizerischer Sicherheitsunternehmen) die Mehrheit der Türsteher. Sie unterstehen nicht dem Gesamtarbeitsvertrag und ihnen wird keine Grundausbildung vorgeschrieben.

Heute – vier Monate nach Mikes «Unfall» – hüten Mitarbeiter von National Guard Security (NGS) die Pforten des Bieler Duo-Clubs. Ob das schon im Sommer so war und ein NGS-Türsteher Mike den verheerenden Schlag zugefügt hat, wollen die Verantwortlichen nicht bekannt geben.

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Mike auf dem Weg zur Besserung. Bild: Carlo Bischoff

Schädelhälfte raus

Das erste, woran sich Mike erinnern kann, ist das penetrante Piepsen des Apparateturms neben ihm, und dass er sich in einem Raum mit weissem Vorhang befand: der Überwachungsstation. Danach verschwimmt die Erinnerung. Immer wieder schob sich Pflegepersonal durch den Vorhang, drückte an den Apparaten herum, wechselte einen Infusionsbeutel, wies Mike an, erst die rechte, dann die linke Hand zuzudrücken und fragte ihn, ob er wisse, wo er sei. Und bald kamen die Kopfschmerzen. Seiner Schwester, die neben ihm am Bett stand, sagte er noch, «Wie kann ein Kopf so weh tun?!» Ein Freund und dessen Mutter, die ihn anschliessend besuchten, konnten ihm schon keinen klaren Satz mehr entlocken. Das war am zweiten Tag nach dem Vorfall. Ein paar Stunden später wurde er notoperiert: Er hatte erneut eine Hirnblutung. Bei dieser Operation verzichteten die ChirurgInnen darauf, Mikes linke Schädelhälfte wieder einzusetzen. Sein Gehirn war geschwollen und brauchte Platz. Mike weiss nicht mehr viel von den ersten Wochen im Spital. Die Erinnerungsfetzen sind diffus und er hat heute Mühe, sie chronologisch zu ordnen.

Wieder daheim

Auch an den Vorfall selber kann sich Mike nicht erinnern. Er weiss noch, dass er im Party-Boot auf dem Bielersee war. Aber ganz sicher ist er sich nicht, ob er wirklich seine Erinnerung abruft, oder ob er es durch Erzählungen weiss. Näher als zwei, drei Stunden kommt die Erinnerung nicht an den Vorfall heran. Während den ersten Wochen im Spital war das unangenehm: Niemand konnte ihm sagen, was genau passiert war. Und die Voten aus seinem Umfeld, dass er nichts dafür könne, vermochten ihn nur halbwegs zu überzeugen. Mike neige dazu, die Schuld zuerst bei sich selber zu suchen, sagen Freunde. Erst ein langes Gespräch mit einem Ermittler der Kapo konnte ihn zu beruhigen: Er habe offensichtlich zu schlichten versucht und sei einfach zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen.

Erst ein langes Gespräch mit einem Ermittler der Kapo konnte ihn beruhigen: Er habe offensichtlich zu schlichten versucht und sei einfach zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen.

Nach zwei Wochen im Spital wurde Mike in die Reha verlegt. Anfangs machten ihm die neurologischen Tests Mühe. Farben und Wörter in einer bestimmten Reihenfolge blieben ihm kaum im Gedächtnis. Auch gesundheitliche Rückschläge machten ihm zu schaffen. Er hatte schon den Reha-Austritt vor Augen gehabt, dann fesselte ihn eine Hirnhautentzündung für drei Wochen an die Antibiotikainfusion. Dauerhafte Hirnschäden, die nach einem schweren Schädel-Hirn-Trauma eigentlich zu erwarten wären, sind aber bis jetzt nicht zu beobachten. Vor dem Austritt aus der Reha konnte sich Mike Farben und Wörter wieder einprägen; er erzielte in den Tests gute Resultate und konnte die neurologische Therapie abschliessen.

Mike ist jetzt seit ein paar Wochen wieder zuhause. Er ist häufig müde und hat morgens Kopfschmerzen. Seit letzter Woche ist das aber viel besser geworden. Da musste er nochmal ins Inselspital: vier Monate nach dem Vorfall haben sie ihm die linke Schädelhälfte wieder eingesetzt – ohne Komplikationen.

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