Sommermoment #13

Illustration: Lisa Linder

22. Juli 2021

Von

Mühsame Mücken und schwedische Sonnenaufgänge: Unsere Autorin hat die kürzeste Nacht ihres Lebens hinter sich.

Um kurz vor 23 Uhr gehen wir los. Ein schmaler Fussweg führt uns vom Hotel dem See entlang zum Waldrand. Kurz bevor wir ihn erreichen, halten wir an und sprayen uns mit Mückenspray ein. Sogar die Haare. Trotzdem umschwirren uns beim Eintreten in den Wald sofort dutzende Mücken. Wie eine Rauchschwade fliegen sie hinter uns her, während wir bergaufwärts gehen. Eine Pause einzulegen ist hier keine Option. Wir gehen zügig und fächern die Mutigsten unter den Plagegeistern, die uns trotz der penetranten Duftnote zu stechen versuchen, genervt weg. Abgesehen vom plötzlichen hohen Sirren, wenn eine Mücke in Ohrennähe auftaucht, ist es still. Ausser uns ist niemand im Wald unterwegs. Trotzdem fühlt es sich nicht spät an, schliesslich ist es taghell. Die Sonne scheint auf die Baumkronen über uns, und je höher wir aufsteigen, desto öfters treten auch wir ins goldene Licht.

Nach etwa einer halben Stunde erreichen wir ein rotes Holzhaus auf dem höchsten Punkt des Hügels, umgeben von einer kleinen Lichtung. Sie gibt den Blick frei auf die schwedische Kleinstadt unter uns und die waldgeprägte Landschaft rundherum. Die Sonne selbst steht flach über der gegenüberliegenden Hügelkette, direkt über einem weiss leuchtenden See. Nach einem ersten Foto beginnen wir in stiller Übereinkunft, auf der Lichtung Hin und Her zu gehen, um den Stechviechern zu entkommen. Zwischendurch bewundern wir den kitschigen Sonnenuntergang. Er scheint nicht enden zu wollen. Erst nach über einer Stunde werden die Schatten hinter uns langsam schwächer und verschwinden schliesslich. Nun ist die Sonne weg.

Jetzt heisst es warten. Gemäss meiner Wetterapp sollte der einzige Stern am Himmel bereits in 30 Minuten wieder auftauchen. Wir rätseln darüber, wie weit er in dieser Zeit wandern wird. Währenddessen lassen wir Lo&Leduc das Gesirre der Mücken übertönen. Ihr Berndeutsch wirkt seltsam fremd hier. Gleichzeitig erinnert es uns daran, dass es im zweitausend Kilometer entfernten Bern längst stockdunkel ist. In einer Mischung aus Müdigkeit und Nervosität suchen wir in der Umgebung nach Anzeichen dafür, dass es ein kleinwenig dunkler werden könnte. Wir finden keine.

Dann, um halb zwei Uhr, glauben wir zu erkennen, wo die Sonne über dem Wald auftauchen wird. Dennoch dauert es nochmals eine Viertelstunde, bis uns der erste Strahl erreicht. Es wirkt surreal und absurd, fesselnd und gleichzeitig amüsant. Wir brechen in Jubel aus und lachen dann selbst über uns. Ein Foto unseres Schattens ist das letzte Erinnerungsstück, das wir mitnehmen. Dann übermannt uns endgültig das Bedürfnis nach Schlaf. Die Helligkeit fühlt sich nun mehr denn je wie ein Jetlag an.

Im Licht der aufgehenden Sonne gehen wir den Waldweg hinunter. Die Mücken sind nun fitter als wir und stechen uns in den Nacken, die Stirn und die Ohren. Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichen wir den kleinen See und wenige Minuten später unser Hotel. Beim Eindösen wird mir klar: Dass die Nacht dunkel ist, ist genau so wenig selbstverständlich, wie dass Weihnachten im Winter ist. Das Erste habe ich nun mit eigenen Augen gesehen. Weihnachten im Sommer hingegen ist Stoff für eine andere Geschichte.

0 0 votes
Article Rating
Abonnieren
Benachrichtige mich zu:
0 Comments
Inline Feedbacks
View all comments