Randnotizen: 2016 – Ein Nachtrag

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22. Januar 2017

Von und

Mit Schimpf und Schande ist das Jahr 2016 zu Ende gegangen – ein Jahr gezeichnet von geopolitischen Katastrophen, desaströsen Wahlergebnissen und dem Ableben etlicher grosser Künstler_innen und Held_innen der Kindheit. Obschon wohl niemand wirklich daran glaubt, dass wir mit einer kalendarischen Zäsur das angerichtete Übel abstreifen könnten, so ist das Verfluchen dieses annus horribilis trotzdem eine wichtige psychohygienische Massnahme.

Diesem durchaus gerechtfertigten Zorn möchte ich entgegenhalten, dass das Jahr 2016 zumindest in kultureller Hinsicht auch Anlass zu Hoffnung gab. Befeuerten die Rechtspopulisten und Trumps dieser Welt Fremdenhass, Sexismus und religiöse Intoleranz, so sprach die Pop-Musik eine andere Sprache. Die Jahresbestenlisten wurden angeführt von Musiker_innen wie Beyoncé, Frank Ocean, Solange, Kendrick Lamar oder ANOHNI, die dem Wüten der angry white men mit wuchtigen Alben entgegentraten und die Erfahrung von Andersheit und Ausgrenzung in ihrem Schaffen künstlerisch reflektierten. Das Pop-Jahr 2016 schien die These des deutschen Musikjournalisten Jens Balzer zu untermauern, dass sich die Herrschaft des dominanten heterosexuellen Mannes über das Reich der Pop-Musik seit den Nullerjahren ihrem Ende zuneigt – nachzulesen in seinem ebenso klugen wie grossmäuligen und selbstredend streitbaren Buch «Pop – ein Panorama der Gegenwart» (2016 im Rowohlt-Verlag erschienen).

Auch in anderen Kunstgattungen zeigte sich ein zunehmendes Bewusstsein dafür, dass Kultur gerade in Zeiten ideologischer Verunsicherung für eine freie und offene Gesellschaft eintreten muss. Mein diesbezügliches Highlight des Berner Kulturjahres 2016 kam aus einer Ecke, die sonst nicht gerade mit politischem Engagement glänzt – der klassischen Musik. Das Berner Barockensemble Die Freitagsakademie gestaltete gemeinsam mit dem Ensemble Sarband einen ergreifenden Konzertabend, der die Musik Johann Sebastian Bachs mit der Klangwelt der Sufi-Tradition verband.

Wo andere nicht müde werden kulturelle Unterschiede und Unvereinbarkeiten zu betonen oder gar den «Kampf der Kulturen» beschwören, traten an diesem Abend im September Musiker_innen auf einer Bühne in einen Dialog und zeigten spielend auf wie fruchtbar sich verschiedene Traditionen begegnen können. Die berühmte Arie «Erbarme dich» aus der Bach’schen Matthäuspassion, vom syrischen Sänger Rebal Alkhodari auf Arabisch vorgetragen, eröffnete einen utopischen Raum grenzenloser Menschlichkeit. Es war die hoffnungsvollste Musik, die ich seit langem gehört habe und mein persönlicher Soundtrack des Jahres 2016.

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