Le nègre s’est fait homme

Bild: Historische Zeichnung der Revolte

Historische Zeichnung der Revolte: Die Farbigen massakrieren die weisse Bevölkerung Haitis. «Saint-Domingue, ou l'histoire de ses révolutions»

27. Mai 2017

Von und

In der Geschichtsschreibung zur Entstehung der modernen Demokratie geht die Revolution auf Haiti meist vergessen. Dabei legten die BewohnerInnen der Karibikinsel Ende des 18. Jahrhunderts ein Fundament für die Akzeptanz der Menschenrechte und setzten ein Zeichen gegen die Diskriminierung dunkelhäutiger Bevölkerung.


Die Abkehr vom Feudalismus, die Gründung des liberalen Rechtsstaats, Gleichheit für alle BürgerInnen. Die Eckpfeiler der Gründung einer modernen, demokratischen Gesellschaft werden gemeinhin der Französischen Revolution zugeschrieben. Zusammen mit der Unabhängigkeitserklärung der USA gilt sie als grosse Zäsur der Demokratiegeschichte, als Geburtsstunde moderner Bürgerrechte. «Wem ist denn die Haitianische Revolution bekannt?», fragte die Soziologieprofessorin Gurminder Bhambra am Kongress «Reclaim Democracy» Anfang Februar in Basel. Nur vereinzelte Hände erhoben sich in der Weite des grossen Saals. Der Umsturz auf der Karibikinsel findet kaum je Erwähnung, wenn es um die Ursprünge fairer Mitbestimmungsrechte für alle geht. Die wenigsten Lehrpersonen in Europa dürften die Haitianische Revolution in ihrem Unterricht thematisieren. Sogar die universitären Lehrgänge lassen die Thematik oft aussen vor – Studierende stolpern meist nur zufällig darüber. Zu Unrecht, wie Gurminder Bhambra findet. «Unser Demokratieverständnis ist defizitär, wenn wir Haiti in der Demokratiegeschichte auslassen und die Entstehung moderner Demokratien primär auf Frankreich und die USA zurückführen.» Die Professorin forscht an der englischen Universität Warwick in den Bereichen Kolonialismus und Postkolonialismus – und plädiert für eine grössere Beachtung der Haitianischen Revolution.

Als am 14. Juli 1789 in Paris aufgebrachte BürgerInnen die Bastille stürmten, ahnte man viele tausend Kilometer weiter westlich noch nichts von den Konsequenzen, die dieses Ereignis mit sich ziehen würde. In der französischen Kolonie Saint-Domingue, dem heutigen Haiti, prosperierte die Wirtschaft. Dank ihrem Zuckerexport galt die Kolonie als die Einträglichste der Welt. Die Leidtragenden dieses kolonialen Handelns waren die versklavten Menschen auf den Zuckerrohrplantagen. Die Arbeitskraft der Verschleppten wurde konsequent und erbarmungslos ausgenutzt, ihr Tod war gar ein fix einkalkuliertes Risiko in den Geschäftsbüchern der Kolonialisten.

«Einzigartig ist dabei die Radikalität, mit denen die Versklavten durch Selbstemanzipation ihre Freiheit erlangten»

Die Versklavten bildeten die unterste Schicht einer Gesellschaft, die streng rassenhierarchisch organisiert war. Je heller die Haut, desto mehr Rechte gestand die Kolonialregierung ihren Untergebenen zu. Die weissen EuropäerInnen, bestehend aus den Grundbesitzenden («grands -blancs») und den Besitzlosen («petits blancs»), bildeten die Oberschicht. Mulatten («gens de couleur») besassen zwar teilweise eigene Plantagen und brachten es zu erheblichem Wohlstand, durften aber keine öffentlichen Ämter ausüben. Wie die «grands blancs» lehnten auch die wohlhabenden Farbigen eine gerechtere Verteilung des Bodens ab. Dieses Spannungsverhältnis innerhalb der Gesellschaft zwischen Versklavten, Farbigen und Weissen, sowie Besitzenden und Besitzlosen bildete die Grundlage für die Revolution auf Saint-Domingue. Als die Neuigkeiten aus Frankreich die Karibik erreichten, begannen die vorherrschenden Machtverhältnisse zu bröckeln. Während sich die farbige Mittelschicht mit der Forderung nach «égalité» und «fraternité» in ihrem Streben nach rechtlicher und sozialer Gleichsetzung mit der weissen Oberschicht bestärkt sah, fokussierten die dunkelhäutigen Versklavten insbesondere auf den Gedanken der «liberté».

Aufstand der Unterdrückten

In einem Geheimtreffen bei Feuerschein und religiösen Ritualen planten sie ihre Rebellion gegen die französische Herrschaft – so besagt es zumindest die Legende. Die historische Faktenlage ist undurchsichtig. Klar ist, dass es im Spätsommer 1791 in der Nordprovinz Saint-Domingues’ zu einer Zusammenkunft kam, bei welcher der Beginn des Aufstands besprochen wurde. Am 22. August war es dann so weit: brandschatzende Versklavte zogen von Plantage zu Plantage, exekutierten die weissen Pflanzerfamilien und ermunterten die einfachen ArbeiterInnen, sich ihnen anzuschliessen. Obwohl viele folgten, gab es auch Farbige, die sich auf die Seite der Weissen stellten. Insbesondere die besitzende Mittelschicht sah in der Forderung der Aufständischen nach einer Bodenreform eine Gefährdung ihrer sozialen und wirtschaftlichen Privilegien. Eine einheitlich geführte Revolte war so unmöglich. Auch unter den Versklavten war man sich nicht einig. Die unterschiedliche afro-ethnische Herkunft liess geografisch isolierte Partikularverbände entstehen, die unabhängig voneinander operierten. Die Revolution zerfiel in mehrere Teile.

Die weissen KolonialistInnen reagierten auf den Aufstand mit brutaler Repression gegenüber dem dunkelhäutigen Teil der Bevölkerung. Immer mehr RekrutInnen schlossen sich in der Folge den Revolutionären an. Trotzdem mussten diese immer wieder Niederlagen gegen die besser ausgerüstete französische Armee in Kauf nehmen. Die Wende brachte schliesslich der Eintritt Spaniens in den Konflikt. Die Iberer besassen bereits den Osten der Insel und wollten 1793 ihre Herrschaft auch im Westteil etablieren. Die weissen Plantagenbesitzer fürchteten um den endgültigen Verlust ihres Besitzes und wendeten sich hilfesuchend an Grossbritannien. Darin sahen wiederum die Versklavten zusätzliches Unterdrückungspotenzial, welches sie dazu verleitete, auf die Seite Frankreichs zurückzukehren. Die externe Bedrohung hatte zur temporären Beseitigung der inneren Konflikte geführt.

«Europa ist wohlhabend, weil es eine koloniale Vergangenheit hat»

Grosse Teile der Sklavenverbände kämpften nun aufseiten der neuen französischen Republik. Vereint gelang es ihnen, die Spanier und Briten aus Saint-Domingue zu vertreiben. Weil sich die «grands blancs» in ihrer Not an den imperialistischen Erzfeind Grossbritannien gewendet hatten, wurden sie als Verräter an der französischen Republik betrachtet und mussten die Insel verlassen. In der Folge verbesserte sich die Stellung der dunkelhäutigen Bevölkerung. Auf Druck der ehemals Unterdrückten und als Dank für die Loyalität zur Republik erhielten im August 1793 alle BewohnerInnen im Norden der Kolonie das französische Bürgerrecht. Ein halbes Jahr später entschied der Konvent in Paris, die Sklaverei im gesamten französischen Herrschaftsbereich abzuschaffen.

Europas «Politik der Auslassung»

Die Revolte der Versklavten ist deshalb so bedeutend, weil dabei erstmals entrechtete Menschen erfolgreich für ihre eigenen Rechte einstanden. «Einzigartig ist dabei die Radikalität, mit denen die Versklavten durch Selbstemanzipation ihre Freiheit erlangten», führte Gurminder Bhambra aus. «Gerade deswegen müssen wir die gängigen, klar eurozentrischen Narrative dringend rekonstruieren.» Fälschlicherweise werde die Revolution Haitis als Episode derjenigen Frankreichs abgehandelt. Dabei ist das genau nicht korrekt: Am 1. Januar 1804 verkündeten frühere Versklavte und ehemals freie Farbige die Unabhängigkeit Haitis. Oder wie es ein stolzer Haitianer später formulierte: «Le nègre s’est fait homme». Fortan hiess der Staat Haiti, was in der Sprache der indigenen Taíno «bergiges Land» bedeutet.
In Frankreich hatte inzwischen Napoleon Bonaparte das Zepter übernommen. Mit einer neuen Konstitution verfolgte er das Ziel, die alte soziale Ordnung wiederherzustellen. So kam es zu Beginn des 19. Jahrhunderts erneut zum militärischen Konflikt zwischen französischen Truppen und der farbigen Bevölkerung der Insel. Die Auseinandersetzung endete mit der Niederlage Frankreichs und dem kompletten Abzug seiner Soldaten. Der neue Staat Haiti gründete auf der Verfassung, die der vormalige Führer des farbigen Widerstand Toussaint Louverture bereits drei Jahre zuvor verfasst hatte. Louverture, zeichnete verantwortlich, dass die Verfassung mit einem expliziten Diskriminierungsverbot versehen war – als weltweit erste ihrer Art.
Noémi Michel sieht in der heutigen europäischen Historiographie ebenfalls eine Form von Diskriminierung. Die Genfer Politologin hat einen haitianischen Vater, ist entsprechend mit der Geschichte des Landes aufgewachsen. Dass Europa die Haitianische Revolution diskreditiert, ist aus ihrer Sicht Ausdruck einer «rassifizierten Anordnung von Wissen». NichteuropäerInnen würden in westlichen Gesellschaften oftmals als «Menschen von anderswo» kategorisiert – für Michel eine inakzeptable Tatsache. Sie engagiert sich als Mitglied des «Collectif Afro-Swiss» gegen Rassismus im öffentlichen Raum. Zu oft wird sie nur aufgrund ihres Äusseren gefragt, woher sie denn komme – zu selten wird sie ganz einfach zu derselben europäischen Gesellschaft gezählt. Wenn eine Person automatisch einer «anderen» Herkunft zugeschrieben wird, wie kann sie dann in demokratischen Auseinandersetzungen eine gleichwertige Stimme haben? Noémi Michel spricht in diesem Zusammenhang von einer «Politik der Auslassung». Haitis Geschichte werde absichtlich vergessen.

«Europa leidet unter kolonialem Erinnerungsverlust»

Das Problem kann indes kaum auf Individuen abgewälzt werden, vielmehr ist es struktureller Natur: Die verantwortlichen Institutionen – Schulen, Universitäten, aber auch die Politik – vernachlässigen die Geschichte aussereuropäischer Staaten. Europa habe die Vergangenheit zum Schweigen gebracht, schrieb der haitianische Anthropologe Michel Rolph Trouillot dazu. «Europa leidet unter kolonialem 
Erinnerungsverlust», sagt Noémi Michel.

Trotz der Pionierleistung vor über 200 Jahren: Haiti ist heute eines der weltweit ärmsten Länder. Zwei Drittel der Menschen können keiner regulären Arbeit nachgehen, die Quote der AnalphabetInnen liegt bei fast 50 Prozent. So turbulent wie die Phase vom Beginn der Unruhen 1791 bis zur Unabhängigkeitserklärung 1804 verlief, so kam Haiti auch in den Folgejahren und -jahrzehnten nie zur Ruhe, die Problemstellungen wirken bis ins 21. Jahrhundert nach. Bereits kurz nach dem Ende der Kämpfe war die Union der Farbigen in ihre Einzelteile zerfallen. Die «anciens libres», die bereits vor der Revolution frei waren, beanspruchten die Macht im neuen Staatsgebilde für sich. Sie besassen eine deutlich bessere Bildung als die Bevölkerungsmehrheit, weshalb sie eine Herrschaft der Fähigsten bevorzugten. Anders sahen das die ehemals Versklavten, die eben erst die Freiheit erlangt hatten. Die grosse Masse an «nouveaux libres» forderte, dass die Macht der Mehrheit zustehen müsse. Dieses Spannungsverhältnis steht am Anfang der «question de couleur» auf Haiti. Deren Ergebnis war eine angebliche Spaltung der Gesellschaft in eine Minderheit privilegierter Mulatten und einer marginalisierten Mehrheit ehemals Versklavter.

Diese konstruierten Gegensätze waren aber stets Teil einer Mystifikation, die beide Seiten zur Herrschaftssicherung zu instrumentalisieren versuchten. In Realität war es eher so, dass sich eine städtische Minderheit die politische und wirtschaftliche Macht teilte, während die Landbevölkerung stark benachteiligt war. Dieser sozioökonomische Unterschied ist bis heute aktuell und erklärt die vorherrschende Ungleichheit bei der Einkommensverteilung und auch den Chancen auf Bildung. Die Romanistin und Hispanistin Frauke Gewecke schrieb in ihrem «Epilog auf eine glorreiche Revolution», sämtliche Oppositionsführer seit der Staatsgründung hätten sich rassistischer und mystifizierender Ideologien bedient, anstatt die tatsächlichen Probleme in der Bevölkerung anzugehen.

Frankreich verdrängt seine Vergangenheit

Und Frankreich? Im Jahr 1989 feierte Paris 200 Jahre Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Das Land inszenierte den besonderen Geburtstag als Exempel für seine Weltoffenheit und erfolgreiche Integration verschiedener Kulturen. «Um die Menschenrechte herum» sollte ein «Fest der nationalen Aussöhnung» gefeiert werden – das hatte der verantwortliche Regierungsvertreter Edgar Faure im Vorfeld verkündet. Dabei sah Frankreich (einmal mehr) über seine unrühmliche koloniale Vergangenheit hinweg und verwischte gleichzeitig die ebenfalls bedenklichen Zustände der Gegenwart. Für die Jubiläumsparade versuchte das Organisationskomitee farbige ArbeiterInnen anzuheuern. Das gelang nur mit Mühe, weil viele Angefragte fürchteten, mit dem Fernbleiben von der Arbeit ihren Job aufs Spiel zu setzen.

Das Propagieren eines Multikulturalismus halte die breiten strukturellen Widersprüche des Systems unter Verschluss, kritisiert der Historiker Laurent Dubois. Jenes System habe lange seinen Universalismus zelebriert, gleichzeitig aber Strukturen der rassischen und ökonomischen Exklusion aufrechterhalten. «Europa ist heute nicht wohlhabend, weil die Generation unserer Väter und Grossväter immer hart gearbeitet hat, wie das nationalistische ExponentInnen gerne behaupten. Europa ist wohlhabend, weil es eine koloniale Vergangenheit hat», stellt Gurminder Bhambra klar. Frankreich proklamierte 1989 die Errungenschaft für sich, wofür zu einem wesentlichen Teil die BewohnerInnen Haitis verantwortlich zeichnen oder zumindest den Stein des Anstosses gegeben hatten: einen Universalismus, der alle Menschen mit einschliesst.

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