Ordnung ist das ganze Leben

Bild: Sam von Dach

28. Mai 2017

Von und

Was bewegt einen dazu, sich zum wöchentlichen Umtrunk mit Mütze, Band und Singbuch zu verpflichten? Ein Augenschein bei der Auroria Bernensis, der ersten rein weiblichen Studentinnenverbindung an der Universität Bern.

Vier Damen und eine Füxin empfangen mich an einem Mittwochabend in einem kleinen Spunten in der Länggasse, den sie dieses Semester als Stammlokal nutzen. Ich nehme Platz an einem langen Tisch und bestelle Kühles, auf dem Flachbildschirm über unseren Köpfen läuft gerade Gewichtheben. Als dann auch die letzte studentische Mütze aufgesetzt und das letzte Band gerichtet ist – Rot hat stets oben zu sein, Weiss hingegen unten – kann Ginger, die Vizepräsidentin der Auroria Bernensis, den allwöchentlichen Stamm endlich eröffnen: «Silentium corona, ich erwarte eure Anmeldungen.» Nachdem die Anmeldung jeder einzelnen Verbindungsstudentin verklungen ist, dürfen die nicht mehr ganz so kühlen Biere, die schon seit dem Eintreffen der ersten auf dem Tisch darben, endlich die Kehlen hinuntergespült werden. Es gäbe keinen Trinkzwang bei ihnen, beteuern die Aurorianerinnen, doch trotzdem bleibt an diesem Abend niemand bei Alkoholfreiem. Wer Bier nicht mag, bestellt ein Panaché. Das sei für sie gerade so geniessbar, sagt mir Ginger.

Die fünf Farbentragenden sind gut gelaunt, aber erstaunt über die tiefe Anwesenheitsquote ihrer Verbindung. Die Teilnahme an den Stämmen sei grundsätzlich Pflicht. Das Studium habe aber Vorrang und deshalb könne man sich bei zeitlichen Engpässen auch mal für ein Semester dispensieren lassen. «Wir sind keine Sekte», sagt Ginger, die anderen lachen. Austritte sind hingegen nicht vorgesehen: Studentinnen- und Studentenverbindungen verstehen sich als Lebensbünde, bei denen die Mitgliedschaft und Verbundenheit erst mit dem Tod endet. Nicht umsonst wohnen viele der traditionsreichen Männerverbindungen regelmässig den Beerdigungen ihrer Altherren bei, um ihnen die letzte Ehre zu erweisen. Die Auroria Bernensis kennt diese Verpflichtung als noch junge Verbindung nicht. Gegründet vor zwölf Jahren als erste rein weibliche Studentinnenverbindung der Universität Bern gab es bisher vor allem Hochzeiten und das zehnjährige Jubiläum zu feiern. Das jugendliche Alter der Verbindung bringt aber auch Herausforderungen mit sich: Regeln entwickeln sich fortlaufend und dieser Prozess ist noch nicht abgeschlossen. Klassische Studentenverbindungen haben diese Probleme vor 200 Jahren durchlebt.

Mut zur Ordnung

Wer einem Stamm der Auroria beiwohnt, bemerkt schnell, dass hier viele Regeln einzuhalten sind. So darf kein Glas angesetzt werden, ohne dass jemandem zugetrunken wird. Wer sich auf die Toilette oder für eine Rauchpause nach draussen begeben will, muss dafür erst die ranghöchste Anwesende um Erlaubnis bitten. Dies und vieles mehr ist im sogenannten «Comment» der Verbindung festgehalten. Die einengenden Vorschriften begründen die Aurorianerinnen mit der Ordnung, die dadurch sichergestellt werde. Sobald eine gewisse Verbindlichkeit bestehen soll, sei es effizienter, Vereinsstrukturen zu etablieren, denn ohne klare und strikte Regeln funktioniere eine Gemeinschaft von 15 bis 20 Leuten schlicht nicht, sind die fünf Frauen überzeugt. Immer wieder betonen sie aber auch die spielerische Lust an Ritualen und Rollenspielen, die in Verbindungen gepflegt werden. So wird zwar Latein als Verbindungssprache verwendet, doch immer wieder fliessen fantasievolle Pseudofloskeln ein: Die Bitte um Erlaubnis einer Rauchpause wird durch das ominöse Sprachkonstrukt -«tempus puffandi» geäussert. Die Bewilligung wird mit dem tatsächlich lateinischen «habeas» – in etwa «du sollst es haben» – erteilt. «Latein ist Teil des Spiels», bestätigt Splendida.

Eine StudentInnenverbindung ist im Grunde genommen institutionalisierte Freundschaft.

Blosses Spiel sind die Formalitäten jedoch nicht. Daisy betont: «Tradition hat für mich an sich einen Wert. Alle meine Vorfahren waren ebenfalls Couleuriker.» Meridiana fügt an: «Es wird zu häufig Altes verworfen. Dabei hat dieses die Gegenwart, wie wir sie kennen, erst geformt. Für mich ist es eine beruhigende Vorstellung, dass, wenn ich 60 Jahre alt bin, noch Studentinnen in der Verbindung zusammenkommen wie wir es heute tun.» Für Ginger hingegen waren diese Bestandteile des Verbindungswesens zu Beginn nicht besonders attraktiv: «Mich haben die Regeln eher abgeschreckt –
ich lasse mir doch nicht vorschreiben, wie ich mein Bier zu trinken habe.» Dennoch habe sie in der Verbindung ein anderes Verhältnis zu Hierarchien gefunden: «Früher fand ich Macht doof, aber wenn man selbst Präsidentin ist, kann sie ganz praktisch sein.»

«Die Auroria ist sicher durchmischter als die Gruppe vegetarischer und feministischer Theologinnen, die ich vom Studium kenne.»

Die Vorurteile, mit denen sich Verbindungen regelmässig herumschlagen müssen, kennen die Aurorianerinnen und weisen sie vehement zurück: Sie seien keine rechten, pausenlos saufenden, elitären Studentinnen, die sich an erniedrigenden Mutproben ergötzen. Transparenz, die sie mit der Farbe Weiss in ihrem Band symbolisieren, sei ihnen ein grosses Anliegen, um diesen Stereotypen den Wind aus den Segeln zu nehmen und gesellschaftlich mehr Akzeptanz zu erlangen. Meridiana meint: «Früher war es noch normal, mit dem Couleur an die Universität zu gehen. Heute wäre das in gewissen Instituten fast Selbstmord.» Weiter fürchtet sie sich davor, dass hierzulande bald Verhältnisse wie in Deutschland herrschen könnten, wo es zum Teil gefährlich geworden sei, sich als Verbindungsmitglied öffentlich mit den Farben zu zeigen. Bei aller Liebe zur Transparenz bleiben trotzdem ein paar blinde Flecken. Verbindungsinterna wie zum Beispiel die Damenprüfung bleiben ein Geheimnis. Ginger verrät aber mit einem Augenzwinkern: «Meine Pfaditaufe war schlimmer.»

Heterogenität als Stärke

Trotz der Regelhaftigkeit und des Pflichtbewusstseins der Auroria geht es am Stamm bisweilen chaotisch zu und her. Immer wieder fällt man einander ins Wort oder reizt den tolerierbaren Lärmpegel bis zum Bersten aus, Ginger mahnt regelmässig zur Ruhe. Einige teilen mit der grossen Kelle aus, andere relativieren eher, wiegeln ab. Daisy ergänzt: «Es chlöpft mängisch o.» Man müsse einfach immer in der Lage sein, den gemeinsamen Nenner zu finden. Anders als vermutet, handelt es sich bei der Auroria nicht um eine studentische Echokammer, hier prallen vielmehr verschiedene Meinungen und Weltanschauungen aufeinander. Ginger bestätigt diesen Eindruck: «Die Auroria ist sicher durchmischter als die Gruppe vegetarischer und feministischer Theologinnen, die ich vom Studium kenne». Die Heterogenität ihrer Mitglieder sei eine grosse Stärke, denn so lerne man ganz verschiedene Leute aus unterschiedlichen Studiengängen kennen. «Leute, an denen ich sonst garantiert vorbeigegangen wäre, weil sie mir auf den ersten Blick unsympathisch waren», so Daisy. In der Verbindung würden aus solchen anfänglichen Antipathien schliesslich lebenslange Freundschaften. Die Verbindung sei eine «selbst ausgewählte Familie».

Heterogenität bei den Geschlechtern?

Nach dem einhelligen Lobgesang auf die Heterogenität drängt sich unweigerlich die Frage nach der geschlechtlichen Heterogenität auf. Eine gemischte Verbindung will die Auroria aber auf keinen Fall sein. Zuerst wird auf den angeblich raueren Umgang verwiesen, der herrsche, wenn Männer dabei seien. In gemischten Verbindungen würden Frauen eher den Männern nacheifern, weshalb das Klima männlich dominiert sei. Die Zulassung ausschliesslich weiblicher Mitglieder sei auch historisch bedingt: Ursprünglich hatten nur reine Männerverbindungen existiert, weshalb sich die Auroria als Gegenbewegung zum Ausschluss der Frauen versteht. Die Gründung einer reinen Frauenverbindung sei ein «Schrei nach Gleichberechtigung» – ein trotziges «wir können und dürfen das auch» an alle, die sie früher nicht dabei haben wollten. Trotzdem versteht sich die Auroria bestens mit anderen Verbindungen «auf Platz Bern» und trifft sich immer wieder mit verschiedenen von ihnen an gemeinsamen Anlässen, sogenannten «Zweifärbelern». Das ganze Verbindungswesen sei ein Netzwerk, der Zusammenhalt sehr stark, ungeachtet der Verbindungszugehörigkeit.

Freizeit im Dienste des Sozialkapitals

In Zeiten abnehmender Bereitschaft, gerade unter jungen Menschen, sich in einem Verein zu engagieren und regelmässige Anwesenheit zu garantieren, stellt die Studentinnenverbindung eine Antithese dar. Die Aurorianerinnen legen Wert auf Regelmässigkeit und Disziplin, weil sie Halt in den Strukturen suchen. Eine StudentInnenverbindung ist im Grunde genommen institutionalisierte Freundschaft, vielleicht gar eine widerspenstige Bastion formell verankerter Beziehungen. Hier ist die Welt noch in Ordnung, weil man die Sicherheit besitzt, dass jeden Mittwochabend im Stammlokal die gleichen Leute auf einen warten, während Sozialwissenschaftler vor dem Untergang des Vereinswesens warnen.

Die Auroria Bernensis betont das Networking in ihrem Online-Auftritt immer wieder als einen ihrer Zwecke. Die Unterstützung durch ältere Kommiliton-Innen kann für das Studium von Vorteil sein. In erster Linie aber profitieren die Farbentragenden von den Beziehungen zu Altdamen und vor allem Altherren, welche im Berufsleben wichtige Positionen inne haben und den Verbindungsmitgliedern bei der Suche nach Praktika und dem Einstieg in den Arbeitsmarkt unter die Arme greifen können. Angesprochen auf diese elitär anmutende Motivation, entgegnet Sayuri: «Gilt der Vorwurf des Elitarismus nicht für alle Vereinigungen von Studierenden?» Es versteht sich von selbst, dass wohl-betuchte Altmitglieder ihre Studentenverbindung auch finanziell unterstützen, weswegen nicht wenige der geschichtsreichen Verbindungen stattliche Verbindungshäuser und einen grosszügigen Etat besitzen. Auf die Auroria treffe dies leider nicht zu.

Bild: Sam von Dach

Weiter sei angedacht, dass jedes Verbindungsmitglied während ihrer Aktivitas eines bis mehrere Ämter, die demokratisch besetzt werden, bekleidet. Dadurch könne in einem geschützten Rahmen Verantwortung übernommen und die Sozialkompetenz geschult werden. Ausserdem forme die Verbindung das Auftreten und übe einen im Umgang mit Andersdenkenden. «Im Job muss man das auch können», meint Meridiana.

Der Abend vergeht, der Spunten wie auch die Gläser leeren sich, inzwischen flitzen Fussballer über den Bildschirm. Als ich mich verabschieden will, laden mich die Aurorianerinnen ein, sie am nächsten Mittwoch noch einmal zu besuchen – ein gemeinsamer Stamm mit einer Männerverbindung stehe an. Dort werde das Spiel der Trinksitten und Bräuche ausgiebiger praktiziert. «Die Zweifärbeler sind deshalb am interessantesten», gibt mir Daisy mit auf den Weg.

 

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Daniel Ziltener
8. Juni 2017 21:17

Der Autor hat am Zweifärbeler wirklich etwas verpasst 🙂