Vertrauen ist gut, Kontrolle ist teuer

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Illustration: Nico Schmezer

22. März 2017

Von und

Oder war’s doch umgekehrt? Der Kanton Bern jagt mit grossem Aufwand SozialhilfebetrügerInnen nach und vertraut gleichzeitig bei der Steuerhinterziehung auf Selbstanzeigen. Wieso eigentlich?

Der Verein «Sozialinspektion Kanton Bern» untersucht seit 2012 Verdachtsfälle auf Sozialhilfemissbrauch. Die Sozialdienste können dem Verein Personen melden, welche verdächtigt werden, falsche Angaben zu ihrer Wohn-, Einkommens- oder Vermögenssituation gemacht zu haben und somit ungerechtfertigt Sozialhilfe zu beziehen.
Vier SozialinspektorInnen untersuchen die Verdachtsfälle. Dabei folgen sie einem standardisierten Verfahren: Zuerst werden die vom Sozialdienst zugestellten Informationen geprüft, anschliessend wird im Internet zur Person recherchiert, später sind unangekündigte Hausbesuche möglich. Wenn konkrete Hinweise bestehen, kommen auch Überwachungsmethoden zum Einsatz. So versuchen die SozialinspektorInnen beispielsweise, mutmasslich schwarzarbeitende SozialhilfebezügerInnen auf ihrem Arbeitsweg zu verfolgen und Beweise zu sammeln. Roger Schürch, Geschäftsführer des Vereins Sozialinspektion Kanton Bern, wiegelt jedoch ab: «Die Überwachung ist nur in einem kleinen Teil der Fälle erforderlich.»

«Man wollte die Sozialinspektion»

Seit der Vereinsgründung vor vier Jahren habe die Anzahl der eingegangenen Aufträge laufend zugenommen, sagt Schürch: «Die definitiven Zahlen für 2016 liegen noch nicht vor, aber die Tendenz ist auf jeden Fall weiterhin steigend.» Den Grund hierfür ortet er bei den SozialarbeiterInnen. Diese seien sensibler geworden: «Da das Thema Sozialhilfemissbrauch stärker in der Öffentlichkeit war, hat man begonnen, genauer hinzuschauen.» Ausserdem entspreche die Entwicklung einem politischen Willen: «Man wollte die Sozialinspektion.»

«Da das Thema Sozialhilfemissbrauch stärker in der Öffentlichkeit war, hat man begonnen, genauer hinzuschauen.»

Die mediale Präsenz und der politische Wille, den Schürch anspricht, können in den Schweizer Zeitungsarchiven relativ detailliert zurückverfolgt werden. Die Wörter «Sozialhilfemissbrauch» und «Sozialmissbrauch» finden zwischen 2001 und 2004 insgesamt in gerade mal 25 Artikeln von Schweizer Medien Erwähnung. Dann schnellt die Zahl der Erwähnungen urplötzlich nach oben: 2005 waren es 45 Artikel, dann 113 (2006), 
345 (2007), schliesslich 440 (2008, Daten von Factiva). In den Berichten stehen meist einzelne Missbrauchsfälle im Fokus. So wurde zum Beispiel aufgedeckt, dass sich ein Stadtberner Sozialhilfebezüger mit Heroindeals ein luxuriöses Leben finanzierte oder eine Sozialhilfebezügerin in Zürich einen BMW fuhr (oder wie es in der Weltwoche hiess: einen «subventionierten Luxusschlitten»).
Durch die Berichterstattung über diese und ähnliche Fälle wurde die Bekämpfung des Sozialhilfemissbrauchs zur sozialpolitischen Priorität hochstilisiert. Schnell zur Stelle war beispielsweise die Stadtzürcher SVP, welche bereits im August 2006 Unterschriften für eine Initiative mit dem Titel «Stopp dem asozialen Sozialhilfemissbrauch» zu sammeln begann.

Die Weltwoche-Kampagne und ihre Früchte

Eine regelrechte Medienkampagne gegen das Zürcher Sozialdepartement und dessen damalige Vorsteherin Monika Stocker (Grüne) orchestrierte die Weltwoche unter Federführung von Inlandredaktor Alex Baur. Zwischen Februar 2007 und März 2008 war in nicht weniger als 19 Ausgaben der wöchentlich erscheinenden Zeitung über Missbrauchsfälle im Sozialdepartement zu lesen, wobei Stocker elf Mal mit einem Bild abgedruckt wurde. Auch wenn ein Bericht der Geschäftsprüfungskommission (GPK) später festhält, dass sich «viele der erhobenen Vorwürfe als falsch erwiesen und teilweise aus dem Zusammenhang gerissen waren», hatte die Kampagne der Weltwoche Konsequenzen: Nach dem medialen Kreuzfeuer gab Monika Stocker im Februar 2008 ihren Rücktritt bekannt.
Nicht nur personell hat sich durch die Missbrauchsdebatte einiges verändert – im Verlauf der Weltwoche-Kampagne wurden in der Stadt Zürich auch erstmals Einsätze von SozialinspektorInnen angeordnet. Dies passt zeitlich ins gesamtschweizer Bild: Obwohl erst 2005 in Emmen (LU) erstmals eingesetzt, greifen zehn Jahre später praktisch alle grösseren Sozialdienste auf Sozialinspektion zurück. Inzwischen wird das Kontrollinstrument von einer breiten politischen Koalition von Sozialdemokraten bis Volkspartei unterstützt. Auch die Gesetzgebung scheint mit der Zeit – oder den politischen Prioritäten – 
zu gehen: Der Straftatbestand «unrechtmässiger Bezug von Leistungen einer Sozialversicherung oder der Sozialhilfe» gelangte erst 2016 durch ein Hintertürchen ins Strafgesetzbuch (Art. 148a StGB). Da die Ausschaffungsinitiative ausdrücklich eine Ausweisung von ausländischen Personen vorsieht, welche missbräuchlich Sozialhilfeleistungen bezogen haben, musste überhaupt erst ein entsprechender Straftatbestand geschaffen werden.

Sozialinspektion kostet

Meist unbürokratisch als Pilotprojekt oder Testbetrieb eingeführt, hat sich die Sozialinspektion heute als fester Bestandteil der Sozialwerke etabliert. So schloss alleine der Verein Sozialinspektion Kanton Bern zuletzt 108 Untersuchungen innerhalb eines Jahres ab. «Die Sozialinspektion Kanton Bern ist etabliert!», lautete denn auch der freudige Titel der Medienmitteilung zum Jahresbericht 2015.
Die Frage nach Sinn und Unsinn der Sozialinspektion fehlt in der Debatte gänzlich – dabei hätte die Öffentlichkeit nach mehreren Jahren immer intensiverer Praxis eine kritische Beurteilung des Instruments verdient. Die Berner SozialinspektorInnen konnten zwar in 60 der 108 abgeschlossenen Fälle einen Sozialhilfemissbrauch nachweisen, doch die Untersuchungen kommen den Kanton nicht ganz billig zu stehen: Die erfolgreichen Untersuchungen des Vereins Sozialinspektion Kanton Bern führten 2015 zu Rückerstattungsforderungen von CHF 450’000, welche einem Aufwand von CHF 610’000 gegenüberstehen. Kommt hinzu, dass kaum der gesamte Rückforderungsbetrag tatsächlich zurückbezahlt wird: «Sozialhilfebeziehende leben bereits auf dem Minimum, in der Regel bleibt von den erhaltenen Leistungen nicht viel übrig. Und wo nichts ist, können die Sozialdienste in einem Missbrauchsfall auch nichts zurückholen», bestätigt Roger Schürch.
Finanziell zu rentieren sei allerdings auch nicht der Auftrag des Vereins, betont Schürch: «Uns geht es darum, sicherzustellen, dass das Sozialhilfegeld auch wirklich zu den Bedürftigen gelangt. Und sicherlich ist auch ein präventiver Aspekt dahinter: Wenn bekannt ist, dass wir kontrollieren, werden weniger Missbrauchsversuche stattfinden.»

Wieso eigentlich nicht Steuerinspektion?

Sozialhilfemissbrauch ist Betrug am Staat, auf Kosten des solidarischen Gemeinwesens. Es ist richtig, dass diese Delikte konsequent verfolgt werden. Dennoch stellt sich die Frage, wieso der Kanton ausgerechnet bei der Sozialhilfe so aufwändig kontrolliert. Wieso werden SozialhilfebetrügerInnen inspiziert, Steuerkriminelle hingegen nicht? Auch diese entziehen dem Gemeinwesen unrechtmässig Mittel und im Gegensatz zu den SozialhilfebezieherInnen wäre bei ihnen durchaus etwas zu holen. 2015 kassierte der Kanton Bern alleine durch Selbstanzeigen von Steuersündigen satte 15 Millionen Franken zusätzliche Steuererträge. Über die Gesamtsumme der tatsächlich hinterzogenen Steuergelder kann nur spekuliert werden.

«Wir vertrauen grundsätzlich 
darauf, dass die Steuerpflichtigen ihre Angaben nach bestem Wissen und Gewissen machen.»

Trotzdem gibt es im Kanton Bern keine «Steuerinspektion». Darauf angesprochen verweist man seitens der Finanzdirektion auf die modernen und automatisierten Systeme, welche die verfügbaren Steuerdaten überprüfen. So werden Lohnausweise beispielsweise direkt vom Arbeitgeber an die Steuerverwaltung zugestellt. Zusätzlich nimmt die Steuerverwaltung eine grosse Zahl an Buchprüfungen vor, fordert Belege ein und überprüft Meldungen Dritter. Auch werden ab 2018 im Rahmen des automatischen Informationsaustauschs (AIA) zusätzliche Steuerinformationen aus dem Ausland zufliessen. Der AIA hat dazu geführt, dass im letzten Jahr eine Rekordzahl von Steuersündigen die Möglichkeit zur straflosen Selbstanzeige nutzten. Rückwirkend müssen sie für die letzten zehn Jahre Steuern bezahlen, dafür entgehen sie einer Busse. «Wir vertrauen aber grundsätzlich darauf, dass die Steuerpflichtigen ihre Angaben nach bestem Wissen und Gewissen machen», heisst es bei der Steuerverwaltung des Kantons.

Zögerlicher Regierungsrat

Strengere Steuerkontrollen wer
den immer wieder auf dem politischen Parkett diskutiert. Im Grossen Rat wurde 2013 ein Postulat angenommen, welches den Regierungsrat damit beauftragte, die Ausarbeitung eines «Massnahmenpaketes zur verstärkten Bekämpfung der Steuerhinterziehung» zu prüfen. Teil dieses Massnahmenpaketes sollte unter anderem eine verstärkte Steuerinspektion sein. Der Regierungsrat um Finanzdirektorin Beatrice Simon (BDP) tut sich aber offensichtlich schwer, konkret etwas zu unternehmen – drei Jahre nach Annahme des Postulates schreibt er in einer Geschäftsantwort an den Grossen Rat: «Die Prüfung der Anliegen steht noch aus.» Vielmehr wurde in der Zwischenzeit bei der Steuerverwaltung der Rotstift angesetzt. Im Rahmen der sogenannten Angebots- und Strukturüberprüfung (ASP), einem umfassenden kantonalen Sparprogramm, wurden bei der Steuerverwaltung zuletzt 21 Stellen gestrichen.
SP-Grossrätin Andrea Zryd reichte deshalb im Januar 2016 eine weitere Motion ein, welche die Forderung nach zusätzlichen Massnahmen gegen Steuerhinterziehung wieder aufnahm: «Das Postulat von 2013 wird schlicht nicht umgesetzt. Die Regierung macht, was sie will, und wir werden vertröstet. Deshalb wollte ich durch die Motion einen verbindlichen Auftrag an die Regierung erwirken.» Doch die bürgerliche Mehrheit im Grossen Rat stellte sich quer, die Motion wurde mit 84 zu 54 Stimmen abgelehnt. Nun ist die Materie auf Eis gelegt, wie Zryd sagt: «Mit dem bürgerlichen Parlament kommen wir im Moment nicht durch, jetzt müssen wir uns auf die Regierung verlassen. Doch ganz ehrlich – da wird nichts passieren. Ich glaube aber, dass der Regierungsrat genau weiss, dass er das Thema Steuerhinterziehung angehen müsste.»

Aufgeschoben, nicht aufgehoben

Tatsächlich erklärt Beatrice Simon, Finanzdirektorin des Kanton Berns, dass das Postulat von 2013 noch nicht behandelt wurde, da ein geeignetes Gefäss fehle: «Der Vorstoss wurde im Rahmen der letzten Steuergesetzrevision 2016 bewusst noch nicht behandelt, weil im Rahmen dieser Revision noch keine steuerpolitischen Massnahmen beschlossen werden sollten. Der Regierungsrat hat deshalb im diesbezüglichen Vortrag darauf hingewiesen, dass dieser Vorstoss erst im Rahmen der nächsten Steuergesetzrevision (per 2019) behandelt werden soll.» Diese Revision soll Ende März in das öffentliche Vernehmlassungsverfahren gehen. Man darf also gespannt sein, ob die Massnahmen gegen Steuerhinterziehung in den kommenden Monaten ähnliche politische Unterstützung erhalten wie die Sozialinspektion.



Verbrichst du noch oder übertrittst du schon?
von David Burgherr

Sowohl Sozialhilfemissbrauch als auch Steuerhinterziehung stellen eine Bereicherung auf Kosten der Allgemeinheit dar. Die gezielte mediale Skandalisierung einzelner Sozialhilfemissbrauchsfälle hat jedoch dazu geführt, dass die politische Bekämpfung der beiden Phänomene sehr unterschiedlich stark ausgestaltet ist. Dies zeigt auch die rechtliche Unterscheidung der beiden Straftatbestände: der Sozialhilfebetrug wird als Verbrechen, bzw. Vergehen, die Steuerhinterziehung als Übertretung qualifiziert. Im Rückblick lässt sich indes sehr genau nachvollziehen, wie durch die mediale Ausschlachtung und politische Bewirtschaftung einzelner Fälle, die erwiesenermassen in der Mehrheit nach Vorschrift verlaufen sind, eine Empörungslage geschaffen wurde, die der Sozialinspektion den Weg bereitet hat. Doch eigentlich handelt es sich beim Sozialhilfemissbrauch um ein Randphänomen: In der Stadt Bern lag die Missbrauchsquote im Jahr 2011 beispielsweise bei 3.5 Prozent, strafrechtlich relevant waren lediglich 0.6 Prozent der Fälle. Unter dem Stigma und der Verschärfung des Sozialhilferegimes leiden hingegen alle Sozialhilfeberechtigten und auch die Wirksamkeit der Sozialarbeit.
Steuerhinterziehung hingegen ist eine der wichtigsten finanzpolitischen Herausforderungen unserer Zeit. Eine Studie der Ökonomen Bruno S. Frey und Lars Feld geht von fast einem Viertel der Schweizer Brutto-Einkommen aus, die nicht versteuert werden. Die daraus resultierenden Steuerausfälle bewegen sich im zweistelligen Milliardenbereich. Dieser Betrag wird jährlich nach oben umverteilt, denn bei dieser «Übertretung» liegen die Delinquenten in der Regel nicht im unteren Bereich der Einkommensverteilung. Solange die bürgerlichen Parteien griffige Gegenmassnahmen ablehnen, müssen sie sich den Vorwurf der Klientelpolitik gefallen lassen. Und die ehrlichen Steuerzahlenden müssen weiterhin auf internationalen Druck hoffen, wie er schon bei der Einführung des automatischen Informationsaustauschs (AIA) nötig war.

 

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