«Der Anwalt hat etwas Hurenhaftes»

Stickelberger Interview

Bild: Sam von Dach

20. Oktober 2016

Von und

…sagt Jacob Stickelberger, 75, Rechtsanwalt, Chansonnier, ehemaliges Mitglied der «Berner Troubadours», Freund und Wegbegleiter Mani Matters, wohnhaft in Zollikon am Zürisee.

Oh, Sie haben Seesicht!

Ach das? Ja. Das nehme ich gar nicht mehr wahr. Manchmal denke ich sowieso: Ein Wald vor dem Fenster wäre eigentlich spannender.

Herr Stickelberger, Sie haben Jura studiert. Ein Vernunftsentscheid?

Eigentlich nicht. Ich hatte das immer gewollt.

In Mani Matters Biografie steht aber, Sie hätten als Student nicht viel von der Jurisprudenz gehalten.

Das ist möglich. Aber das war nur am Anfang des Studiums so. Alles erschien mir abstrakt und trocken. Da stand ich zuerst einmal ziemlich verloren da, wie wahrscheinlich so manch ein Anfänger der Jurisprudenz.

Aber Sie konnten sich mit der Zeit damit abfinden?

Allmählich konnte ich mich damit sogar anfreunden. Das war damals noch so, man verplemperte Zeit, aber irgendwann dachte ich: So jetzt ist fertig, jetzt nehme ich die Sache ernst. Wenn ich schon studiere, dann richtig. Und dazu hat Mani Matter als mein Dozent tatsächlich viel beigetragen. Er nahm mich mit in die juristische Bibliothek und hat mich in die Fachliteratur eingeführt. Irgendwann kam der Zeitpunkt, wo ich mir nicht mehr vornehmen musste, bis nachmittags um vier Uhr zu lernen. Wenn ich dabei war, konnte ich plötzlich und sogar mit Vergnügen bis in die Nacht hinein dranbleiben. Nun, Anwalt ist letztlich natürlich ein Brotberuf. Ein richtiger Brotberuf, das ist Fakt.

Anwalt ist für Sie ein Brotberuf?

Ja, doch schon (lacht). Schauen Sie sich um, arm wurde ich nicht dabei. Viel wichtiger aber ist, für welchen Beruf auch immer, eine Leidenschaft zu entwickeln. Zumindest als Chansonnier hatte ich damals auch bereits so etwas wie einen Namen. Da fanden die Leute, wenn sie einen Anwalt suchten: Ich gehe zum Stickelberger, das ist ein Lustiger.

«Und dann kommen plötzlich Sie mit der Gitarre. Da kann fast nichts schief gehen.»

 

Das hat Ihnen Kunden eingebracht?

Das hat es schon, ja. Freilich war es mir auch wichtig, das eine und andere Mandat gratis zu betreuen, obschon das in unserem Beruf erfahrungsgemäss leider fast undenkbar erscheint. Ich habe mein Sekretariat wiederholt daran erinnert: Wenn jemand verzweifelt und unangemeldet in meinem Büro erscheint und um juristische Hilfe bittet, komme es schlicht nicht in Frage, diese Person einfach wegzuschicken. Mindestens zum Anhören sollte man immer Zeit haben und gegebenenfalls auch weiterhelfen.

In einem Aufsatz vergleichen Sie den Anwalt mit einem Narren.

Ja, der Gerichtshofnarr. Wissen Sie, es ist ja ein toller Beruf. Aber eigentlich haben Sie als Anwalt gar keine Macht. Die hat nur der Richter. Sie dürfen argumentieren, Sie dürfen zwar nicht unflätig, aber durchaus auch frech sein. Sie können sich manches erlauben, wie früher der Hofnarr gegenüber dem König. Das kann ich als Anwalt auch, ich kann dem Richter ohne weiteres sagen, die Gerichtspraxis, auf welche er sich stützen wolle, sei falsch. Doch am Schluss ist es allein der Richter, der den Daumen rauf oder runter hält. Er allein entscheidet.

Dafür ist ein Narr unterhaltsam– wie ein Chansonnier.

Ich würde jetzt nicht sagen, alle Chansonniers seien Hofnarren. Aber unterhaltend sollen sie sein, ja natürlich! Das blosse Wort, beziehungsweise der Vers, verbunden mit dem Musikalischen, ist im Vergleich zum rein Schriftstellerischen ein wohltuender Segen. Daran hatten sich Mani Matter und ich immer wieder erfreut, zum Beispiel an den Oltner Literaturtagen. Da sah und hörte man sich den ganzen Tag lang einen glänzenden Schriftsteller nach dem anderen an. Doch jeder liest, liest, liest. Und dann kommen plötzlich Sie mit der Gitarre. Da kann fast nichts schief gehen.

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Bild: Sam von Dach

Dem Chansonnier und dem Anwalt ist doch auch gemeinsam, dass beide authentisch und glaubwürdig sein müssen?

Grob typisiert sind die beiden natürlich sehr verschieden – aber es gibt schon Gemeinsamkeiten: Gleichermassen bestimmend ist sowohl beim Chansonnier als auch beim Anwalt die Macht des Wortes. Etwas präzise und anschaulich ausdrücken, sei dies im Plädoyer oder mit einem treffenden Vers im Lied, das ist tatsächlich fast dasselbe. Nur vertreten Sie als Anwalt einzig und allein die Interessen des Klienten. Sie müssen parteiisch sein.

Und das hat Ihnen nie Mühe bereitet?

Im Gegenteil. Es ist von Berufs wegen meine Pflicht, parteiisch zu sein. Wenn ich persönlich oder sachlich mit einem Klienten wirklich Mühe habe, dann ist meine einzige mögliche Alternative, das Mandat niederzulegen. Das passierte mir hin und wieder, Honorar hin oder her. Es ist richtig befreiend, zu wissen, dass mir diese Möglichkeit immer offensteht.

Haben Sie so etwas wie zwei Gesichter: Hier der Anwalt und da der Chansonnier?

Für mich selbst nicht. Aber für die anderen schon, vor allem für die jeweiligen Gegenparteien am Gericht; die fanden mich regelmässig furchtbar. Dabei muss ich einräumen: Der Anwalt hat tatsächlich etwas Hurenhaftes. Ich meine, da kommt morgens einer zu mir ins Büro und bittet mich, ihn zu vertreten. Ein Lumpenhund wolle ihm ein ihm gewährtes Darlehen von 500’000 Franken einfach nicht mehr zurückzahlen. Dann willige ich natürlich ein. Wäre jedoch exakt dieser angebliche Lumpenhund zehn Minuten früher zu mir aufs Büro gekommen, dann hätte ich umgekehrt wohl diesem zugesagt. Das ist im Grunde genommen bezahlte Gerechtigkeit. Doch dieser Ritus ist nun mal institutionell so vorgesehen. Wenn es Ihnen nicht gelingt, parteiisch zu sein, müssen Sie Richter werden.

Und wie handhaben Sie das bei Strafrechtsfällen?

Ich werde immer wieder gefragt, ob ich jemanden als Schuldlosen verteidigen würde, obschon ich wüsste, «dass er es ist». Meine Antwort: Ich würde und das habe ich auch. Stellen Sie sich etwa den Fall eines Bauernsohnes vor, der von seinem Vater von frühester Kindheit bis ins Erwachsenenalter geplagt und geplagt wurde. Und eben dieser Vater liegt eines Morgens erschlagen in der Tenne. Wer war es wohl? Doch egal, was der Verteidiger weiss oder nicht weiss: Es besteht für ihn weder ein gesetzliches noch ein moralisches Hindernis, diesen Mann zu verteidigen. In dubio pro reo, der Staat muss herausfinden, wers war. Ein Freispruch eines Schuldigen ist immer noch hundertmal besser als ein Schuldspruch über einen -Unschuldigen. Mag zuletzt der liebe Gott über Recht und Unrecht definitiv entscheiden.

Sie sind oder waren aber nicht nur Anwalt, sondern auch Chansonnier und Berner Troubadour.

Ja. Bei den «Berner Troubadours» waren wir zu sechst. Der Name, den wir übernahmen, wurde uns von aussen gegeben. Plötzlich kamen Anfragen aus der ganzen Deutschschweiz, und die Auftritte danach waren bald ausnahmslos ausverkauft – was uns regelrecht verlegen machte. Es stand nie zur Debatte, dass wir von der Musik hätten leben wollen. Das lief nebenbei, wir führten alle unser bürgerliches Leben.

«Ein Freispruch eines Schuldigen ist immer noch hundertmal besser als ein Schuldspruch über einen Unschuldigen.»

 

Die Gruppe trennte sich dann aber allmählich.

Mani Matter, Fritz Widmer und ich wünschten uns einen besseren Austausch untereinander – wegen der Qualität der Lieder. Zu dritt zeigten wir uns die neu entstandenen Chansons regelmässig, Mani die Seinen stets mit der Frage: «Was meinsch?» Meine Antwort erübrigte sich ebenso regelmässig, denn bei ihm gab es nichts zu verbessern. Anregungen hingegen konnten ihn begeistern, etwa beim «Alpenflug». In seiner ursprünglichen Fassung landeten Pilot und Passagier wohlbehalten. Ich fand: «Die muesch la abegheie!». Darauf Mani sofort: «Hesch rächt, i has ja o lieber, wes schlächt usgeit wie aube bi dir.» Oder: Die Katastrophe im «Zündhölzli» endete bei Mani ursprünglich mit dem Untergang der Schweiz, das heisst mit der Zeile «Ds ganze Land i eim Tumult, dass me gschosse hätt uf d‘Bundesrät am Rednerpult». Ich fand nur: «Werum nume d Schwiz? Söttsch konsequänterwys die ganzi Wält la untergaa.» Das Lied rundete er darauf ebenso spontan mit der fünften Strophe ab.

Ein Produkt der Zusammenarbeit zwischen Ihnen, Fritz Widmer und Mani Matter ist die «Kriminalgschicht».

So ist es. Unser gemeinsames Programm hätte aus zwei Teilen bestanden, unseren eigenen Liedern und eben der «Kriminalgschicht», die eine Zusammenarbeit von uns dreien war. Es war eine reine Kalberei, für uns eigentlich lustiger als fürs Publikum. Wir hatten die gesamte Tournee vorbereitet, alle Termine gesetzt – 
und dann ist Mani verunglückt. Fritz Widmer und ich sind mit dem Programm dann doch aufgetreten, also auch mit der -«Kriminalgschicht», und haben für den ersten Teil Manis Lieder übernommen: «Warum syt dir so truurig» war eines oder «Nei säget sölle mir».

Mit der «Kriminalgschicht» nehmen Sie den Krimi als Genre auf die Schippe.

Den Ausdruck «auf die Schippe nehmen» mag ich nicht. In die Liedtexte packten wir einfach die Klischees, die in einem rechten Kriminalroman zu finden sind. Aber das soll nicht ein Sich-über-etwas-lustig-Machen sein. Meistens ist ja eine Situation einfach per se lustig. Uns wurde hin und wieder zum Vorwurf gemacht, dass wir nicht «politische» Sänger seien. Aber das stimmt einfach nicht, wir sind und waren auch politisch – einfach nicht ausschliesslich. Nur schon das Lied von Mani «Nei säget sölle mir vo nüt me andrem tröime»: So etwas soll nicht politisch sein?

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