Zu Besuch im Königreich

Katar1

Katar bei Nacht. Bild: zvg

13. März 2016

Von und

Fussball-WM, Finanzmacht, Tourismusdestination – das kleine Emirat Katar hat es weit gebracht. Nur: Realitätsbezug und gesellschaftliche Werte bleiben im reichsten Land der Erde auf der Strecke.

«Meine Damen und Herren, wir werden in Kürze in Doha, Hamad International Airport, landen. Bitte stellen Sie ihre Rückenlehne senkrecht und bleiben Sie angeschnallt, bis das Flugzeug zum Stillstand gekommen ist.» Die Maschine der türkischen Pegasus Airlines geht in den Sinkflug über. Routiniert folgen die Passagiere – der Aufmachung nach sind es mehrheitlich Geschäftsmänner – den Anweisungen des Kabinenpersonals. In einem weiten Bogen zieht der Pilot über die Wüstenmetropole. Der Blick schweift über dutzende Wolkenkratzer und hunderte Kräne. Weiter zur künstlichen Insel, genannt «The Pearl». Schliesslich taucht das Rollfeld im kleinen rechteckigen Flugzeugfenster auf. Gleich daneben funkelt die gewaltige Stahlkonstruktion des Hamad International im braunen Wüstensand.

Beim Gang durch den nagelneuen Flughafenterminal wird klar: Kosten wurden hier keine gescheut. Die Böden, das Interieur, die Restaurants und Shops – alles erstrahlt in Hochglanz. Vor zwei Jahren wurde der Flughafen fertiggestellt. Kostenpunkt: 15 Milliarden Dollar. Wie sein grosser Bruder in Dubai in den Vereinigten Arabischen Emiraten ist auch der Hamad International Airport als Drehkreuz konzipiert. Wer in den Fernen Osten reist, legt hier einen Zwischenstopp ein. Meist nur für wenige Stunden. Während dieser Zeit kriegen die Gäste nur die Schokoladenseiten des Landes zu sehen. Wer über das nötige Kleingeld verfügt, der kriegt hier alles: Egal ob in Gold gefasste Mobiltelefone, Delikatessen oder Haute Couture.

Das andere Gesicht des kleinen Emirats erblickt, wer sich aufmacht, das Flughafengelände zu verlassen. Während eine Handvoll Touristen in kurzen Hosen und Geschäftsleute in teuren Anzügen innerhalb von wenigen Minuten die Passkontrolle absolvieren, stehen die Menschen auf der anderen Seite der Absperrung Schlange. Sie kommen aus Nepal, Indien, Sri Lanka oder den Philippinen. Die meisten sind gekommen um zu arbeiten. Als Au-Pairs, Bauarbeiter, Reinigungskräfte. Bei ihrer Ankunft werden sie von anderen Einreisenden getrennt. Es ist ein Vorgeschmack auf das Leben, das sie hier erwartet.

Unvermittelt schlägt das Mädchen, kaum älter als fünf, der Betreuerin mitten in die Magengrube, tritt ihr mit voller Wucht gegen das Schienbein.

Die Baustelle

Einer dieser Gastarbeiter ist Prakesh. Er ist Taxifahrer und stammt aus Nepal. Zusammen mit seinen Kollegen parkt er vor dem Ausgang des Flughafengebäudes. Es ist erstaunlich kühl, vielleicht 20 Grad. Bei der Fahrt ins Stadtzentrum fällt auf, dass niemand zu Fuss unterwegs ist. Überhaupt fehlen die Trottoirs fast gänzlich. Das sei nicht weiter erstaunlich, erklärt Prakesh: «In Katar bewegt man sich per Auto.» Im Sommer, wenn tagsüber um die 50 Grad herrschen, überlebe niemand lange ohne Klimaanlage. Wer es sich leisten könne, der habe einen persönlichen «Driver». So einen hätten vor allem die «Locals» – damit meint Prakesh die Katarer. Oder die «reichen Leute aus Amerika und Europa». «Die Menschen auf der Baustelle? Nein, die nehmen den Bus», fügt er lachend an.

Die Fahrt vom Ankunftsterminal ins Stadtzentrum Dohas dauert ungefähr eine halbe Stunde. Es ist eine Fahrt durch eine einzige gigantische Baustelle. In den letzten rund siebzig Jahren hat Katar eine bemerkenswerte Entwicklung durchlaufen: 1950 lebten schätzungsweise 50 000 Menschen im Emirat am Persischen Golf, heute 2,4 Millionen. Nur jeder siebte ist Katarer. Die meisten sind Ausländer, der Löwenanteil: Gastarbeiter. Währenddem das Land dank Öl zu gigantischem Reichtum gelangte, schwoll der Strom der ArbeitsmitgrantInnen stetig an. Die Gastarbeiter machten aus dem kleinen Küstenstädtchen Doha eine moderne Metropole – und sie sind noch immer nicht fertig.

Katar ist aber nicht bloss eine Ölexport-Nation. Die allmächtige Königsfamilie hat ihre Fühler längst in die Welt ausgestreckt. Als Investorin tritt sie global auf. Auch in Bern, wo sie den Wiederaufbau des Hotels Schweizerhof mitfinanzierte und an dem sie bis heute über Fonds Hauptanteile hält. Den grössten Coup landete das gemäss Handelszeitung reichste Land der Welt am 2. Dezember 2010: In Zürich erhielt Katar den Zuschlag für die Fussball-WM 2022. Es war die umstrittenste Vergabe eines globalen Sportanlasses aller Zeiten. Die Kritik reisst bis heute nicht ab. Nicht zuletzt wegen der prekären Verhältnisse tausender Gastarbeiter, die unter der unbarmherzigen Wüstensonne die Stadien für die erste Winter-WM bauen.

Die Perle

Die Fahrt endet auf der «Pearl», dem rund 400 Hektar grossen Eiland vor der Küste Dohas. 2006 begannen die Bauarbeiten. Auf zig Tonnen Sand und Geröll errichtete das Wüstenkönigreich eine Traumwelt mit Nobelboutiquen, Luxusrestaurants und prunkvollen Villen. Die Menschen bewegen sich auch hier vorzugsweise sitzend: Vornehmlich im Golfwagen. Prakesh wendet seinen Wagen und winkt zum Abschied aus dem offenen Autofenster.

Gerade als das Taxi hinter der Strassenbiegung verschwindet, hält ein dunkler SUV am Strassenrand. Ein gutaussehender Mann Mitte dreissig steigt aus, begleitet von einer gutaussehenden Frau. Er stellt sich vor als Ali, seine Begleiterin als Siham. Ali ist in Katar geboren und aufgewachsen. Nach hiesigem Massstab gehört er zum gehobenen Mittelstand. Studiert hat er in England. Dann kehrte er zurück: Das Familiengeschäft rief. Wie dieses Geschäft aussieht? Etwas mit Finanzen, Investitionen, Business. Beim Flanieren entlang der künstlichen Kanäle, welche die «Pearl» durchziehen, beginnt er von den Vorteilen seines Lebens zu schwärmen: Ja, seine Familie habe eine «Haushälterin» und ja, auch einen «Driver». Steuern bezahle er keine. Werde er krank, erhalte er kostenlos medizinische Hilfe. Erst vor kurzem hat sich die Regierung bei seiner Familie gemeldet: Unser Haus müsse abgerissen werden, habe man ihm erklärt. «Es genügt nicht mehr den modernen Standards. Also bauen wir ein neues Haus», erzählt Ali. Selbstverständlich bezahle das der Staat. Es ist bereits das zweite Mal, dass Alis Familie ein neues Heim erhält. Letztmals vor rund fünfzehn Jahren. Ein Problem hat er damit nicht: «Wenn es danach besser aussieht, wer hätte da schon etwas einzuwenden?»

Das Arrangement

In Doha ist es mittlerweile Abend. Der Souq, der alte Markt im Stadtzentrum, ist gut gefüllt. Alis Freundin hat diesen Ort fürs gemeinsame Abendessen ausgewählt. Siham ist in London geboren. Ihre Eltern stammen aus Marokko. Nach Doha kam sie vor rund zwei Jahren. Seitdem arbeitet sie in Katars Hauptstadt als Verkäuferin in einer Designerboutique. Über ihre Wahlheimat spricht Siham in den höchsten Tönen: «Es hat genügend Arbeit, die Bezahlung ist in Ordnung und es gibt tolle Orte wie diesen Souq.» Die 30-Jährige lebt gerne hier – auch wenn sie über weitaus weniger Privilegien als ihr Freund verfügt. Ob sie den gar nichts störe? Nach langem Überlegen sagt sie: «Ich durfte das Land vorübergehend nicht verlassen, auch nicht um bei meinen Eltern Urlaub zu machen. Das hat mich gestört.» Die dafür benötigte Ausreiseerlaubnis (exit permit) erhielt sie erst, nachdem sie ein Jahr in Katar gearbeitet hat.

Später stossen einige Kollegen und Kolleginnen von Siham dazu. Einer von ihnen ist der Syrer Qabel. Nach Katar kam er lange bevor sein Land im Chaos versank. Er steht seiner Wahlheimat kritischer gegenüber: «Hierhin kommt man, um zu arbeiten, sonst für nichts.» Ihn stört, wie das Land mit Menschen umspringt, die keine Einheimischen sind. Insbesondere mit «den armen Teufeln auf dem Bau». Wenn er könnte, wäre er längst weg. Als Syrer sei es aber momentan unmöglich, anderswo einen gesicherten Aufenthaltsstatus zu erlangen. Und so habe er sich mit der Situation halt irgendwie arrangiert. «Wie viele, die an diesem Tisch sitzen», sagt er und macht dabei eine ausladende Handbewegung.

Als hätte Qabel es heraufbeschworen, kommt es plötzlich zu einem kleinen Tumult am Eingang der Markthalle. Die Sicherheitsleute in den massgeschneiderten Anzügen treten hinter ihren Stehpulten hervor. Einer der Securities nimmt sich die beiden Männer zur Brust, die gerne eintreten möchten. Mit der Hand weist er ihnen den Weg: raus. Hinein kommen nur Touristen, Expats oder Katarer. Ganz bestimmt keine, die aussehen wie indische oder pakistanische Gastarbeiter.

«Unser Haus wird abgerissen – es genügt nicht mehr modernen Standards. Also bauen wir ein neues. Selbstverständlich bezahlt das alles der Staat.»

Der Alltag

Am nächsten Morgen vor dem City Center Doha. Es ist der 18. Dezember, offizieller Nationalfeiertag Katars. In den Strassen trifft man auf Männer in traditionellen Festgewändern. Es war Sihams Vorschlag, sich hier zu treffen. Vor dem Eingang der gigantischen Einkaufsmeile stehen auch drei verschleierte Frauen. Den vielen Einkaufstaschen nach haben die drei gerade eine Menge Geld für teure Designerstücke ausgegeben. Im Schlepptau haben sie eine Horde Kinder sowie eine junge Frau, bei der es sich ganz offensichtlich um das Kindermädchen handelt. Sie hat ihre liebe Mühe, die Kinderschar im Zaum zu halten. Ein kleines Mädchen beginnt zu weinen und zupft an der Burka seiner Mutter. Als die Mutter keine Notiz vom Gequengel nimmt, stapft es nun lauthals schreiend zurück. Unvermittelt schlägt das Mädchen, es kann kaum älter als fünf sein, der Betreuerin, die gerade dabei ist, einem Jungen die Nase zu putzen, mitten in die Magengrube, tritt ihr mit voller Wucht gegen das Schienbein. Die Mutter nimmt auch davon keine Notiz und führt seelenruhig ihre Unterhaltung fort. Die Gleichgültigkeit, mit der die Mutter der Situation begegnet, lässt tief blicken. Menschenunwürdige Arbeitsbedingungen herrschen nicht nur auf den Grossbaustellen, sondern auch in den Privathaushalten. Tausende Frauen arbeiten hier, der völligen Willkür ihrer Arbeitgeber ausgesetzt, als Kinderbetreuerinnen, Reinigungskräfte, Küchenhilfen. Ausbeutung, psychischer wie sexueller Missbrauch gehören zum Alltag.

Der Feiertag

Am Abend folgt der Höhepunkt der Feierlichkeiten: Das Feuerwerk zu Ehren des Königshauses. Tausende Menschen bestaunen das Spektakel. Es zischt und knallt. Bunt glitzernde Raketenfeuer tauchen die Szenerie an Dohas Yachthafen mal in grell-silbernes Licht, mal in rote Rauchschwaden. Eine Menschenansammlung steht etwas abseits. Es sind vornehmlich Männer, Inder, Nepalesen, Bangladescher. Sie haben den ganzen Tag auf das Schlussbouquet gewartet. Es ist der einzige Moment, von dem sie nicht ausgeschlossen werden können. Im Wüstenstaat Katar sind sie Manövriermasse. Unterprivilegierte. Unterdrückte. Vom sagenhaften Reichtum des Landes erhalten sie höchstens Brotkrumen. Dieser eine Moment gehört auch ihnen. Sobald das Feuerwerk zu Ende ist, werden sie wieder Ausgeschlossene sein. Basierend auf einem Erfahrungsbericht von Sara El Basbasi.

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