Damit Stimmen nicht verstummen

30. Mai 2018

Von und

2015 erhielt Daniel Mekonnen in Luzern als Teil des Projektes «Stadt der Zuflucht» eine Wohnung und ein Stipendium. Dem eritreischen Regimekritiker wurde die Erneuerung seines Reisepasses verweigert, nachdem er 2001 das Land verliess. Zwangsweise musste er sich an das Exil gewöhnen und wechselte alle paar Jahre seinen Wohnort.

Kurz vor vier Uhr nachmittags an einem Freitag im April. Die Sonne hat ihren Zenit bereits überschritten und auf den Strassen von Genf tummeln sich die PassantInnen, die langsam ins ersehnte Wochenende starten. Ein Gewirr zahlreicher Sprachen schwirrt durch den Vorabend, es ist typisch für die Weltstadt mit dem Sitz der Vereinten Nationen. Daniel Mekonnen wartet bereits beim vereinbarten Treffpunkt vor einem der luxuriösen Hotels in der Nähe des Hauptbahnhofs. Mit seiner Lederjacke und dem karierten Hemd fällt er inmitten der Menschenmenge kaum auf. Er wirkt im ersten Moment etwas scheu und zurückhaltend. Aber Mekonnen ist mit seinem Zuhause zufrieden. «Genf bietet seine eigenen Möglichkeiten. Als internationale Stadt eignet es sich für viele meiner Projekte sehr gut», sagt er.

Mekonnen ist Akademiker, Schriftsteller und Menschenrechtsaktivist und stammt aus Eritrea. Seit 2015 lebt der 44-Jährige in der Schweiz. Im Rahmen eines Pilotprojekts des «International Cities of Refuge Network» (ICORN) bot die Stadt Luzern – in Kooperation mit dem Deutschschweizer PEN-Zentrum – Mekonnen eine Wohnung und wurde damit zur ersten «Stadt der Zuflucht» in der Schweiz. Seit 2006 ermöglicht ICORN AutorInnen, die in ihrem Land an Leib und Leben bedroht sind, in einer Stadt, die sich bereit erklärt, jemandem eine Unterkunft und ein Stipendium zu bieten, während einem bis zwei Jahren ihre Arbeiten fortzusetzen.

«Als ich das Land verliess, wusste ich, dass ich Eritrea so schnell nicht wiedersehen würde»

Über 60 Städte weltweit haben sich bereits dem Städtenetzwerk mit Hauptsitz im norwegischen Stavanger angeschlossen. Skandinavien ist so etwas wie ICORNs Epizentrum, ein Grossteil der teilnehmenden Städte befindet sich dort. Das Netzwerk reicht jedoch mit Barcelona und Chiusi (Toskana) auch bis in den Süden Europas, mit Krakau und Breslau in den Osten, und mit Pittsburgh (USA), Mexico City und Belo Horizonte (Brasilien) sogar bis nach Übersee.

Verschiedenste Stimmen, darunter auch bekannte Namen wie die weiss-russische Buchautorin Swetlana Alexijewitsch, erhielten bereits ein solches Stipendium im Exil und konnten so ihrer Berufung nachgehen. Es sind Menschen, die in ihrem Heimatland nicht die Möglichkeit haben, zu schreiben oder zu publizieren. Repressionen, Inhaftierung und sogar die Ermordung von Journalisten und Autorinnen sind in etlichen Ländern an der Tagesordnung. PEN International setzt sich für weltweite Meinungsfreiheit ein. Allein im Jahr 2016 hat die Organisation 224 Fälle dokumentiert, in denen Journalistinnen, aber auch Autoren, Lyrikerinnen und Liedermacher Inhaftierung auf unbestimmte Zeit, unfairen Gerichtsverfahren und anderen Repressionen ausgesetzt waren. In Ländern wie der Türkei, China, Eritrea, Syrien und Russland kann es tödlich sein, sich kritisch zu äussern. Dabei wird gerade dies explizit im Artikel 19 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die sämtliche genannten Nationen mitunterzeichneten, garantiert: «Jeder Mensch hat das Recht auf freie Meinungsäusserung».

Moderner Nomade

Auch Daniel Mekonnen gehört zu den Betroffenen. Seine Geschichte beginnt in der Nähe von Eritreas Hauptstadt Asmara. Unweit davon ist er aufgewachsen und studierte dort an der Universität in den 1990er-Jahren Jura. Mit nur 26 Jahren wurde Mekonnen zum jüngsten Richter des jungen Landes, das seine Unabhängigkeit von Äthiopien erst 1993 erhielt. Als er miterlebte, wie sich der Staat ab 2001 unter dem Diktator Isaias Afewerki zu einem zunehmend repressiven Regime entwickelte, fasste Mekonnen den Entschluss, Eritrea in Richtung Südafrika zu verlassen und Human Rights zu studieren, damit er etwas für sein Land tun konnte. «Als ich das Land verliess, wusste ich, dass ich Eritrea so schnell nicht wiedersehen würde», sagt Mekonnen. Als Regimekritiker wurde ihm bald die Erneuerung seines Reisepasses verweigert und er war deshalb lange Zeit als Staatenloser eingetragen. Eine Rückkehr ist heute gänzlich undenkbar: Ihn würden Gefängnisstrafen oder Schlimmeres erwarten.

Zwangsweise musste sich Mekonnen seither an das Leben im Exil gewöhnen und wie ein Nomade von Ort zu Ort ziehen. Nach dem Aufenthalt in Südafrika war er in zahlreichen Teilen Europas wohnhaft und arbeitete oft als Gastdozent an verschiedenen Universitäten oder publizierte Artikel. Die Postadresse war jeweils der einzige Hinweis auf einen festen Wohnsitz, wirklich zuhause war er jedoch nie. «So fühlen sich alle im Exil. Mein Herz ist trotzdem in Eritrea», sagt Mekonnen.

Unzensierte Stimmen

Dass es sich bei den ICORN-Programmen auch um einen Austausch zwischen den Kulturen handeln kann, illustriert das Beispiel des palästinensischen Rappers Khaled Harara. Als ehemaliger Anhänger der Palestine Liberation Organization PLO wurden seine Hip-Hop-Workshops im Gazastreifen von der Hamas verboten und er sass mehrmals im Gefängnis. Viele seiner Freunde wurden im Kampf gegen die Hamas getötet. Aus Angst vor Vergeltung blieb Harara in Dänemark, nachdem er am internationalen Festival «Rapolitics» teilnahm. Er wurde im Jahr 2013 als erster Musiker ins ICORNs Netzwerk der Stadt Göteborg als Gastautor aufgenommen. Während seines zweijährigen Aufenthalts trat er an zahlreichen öffentlichen Events auf und nahm mit der schwedischen Jazzrockband Makten & Härligheten zwei Singles auf. So wurde er ein Teil des lokalen Kulturlebens.

Das Ei kann für Eritrea stehen. Aus Eritrea kommt auch kaum etwas rein oder raus, das Land ist von der Aussenwelt abgeschottet.»

Auch Mekonnens Aufenthalt in der Schweiz trug Früchte. Kurz nach seiner Stipendiumszeit gab er das Werk «Uncensored Voices» heraus – ein Buch, in dem Essays, Zeugenberichte und Lyrik von verschiedenen AutorInnen gesammelt sind, die sich mit der Problematik Eritreas beschäftigen. Von ihm selbst ist auch ein Essay dabei, mit dem Titel «The Eritrean ‹Free› Press: A Classic Example of Orwellian Newspeak». Auf dem Titelblatt der Anthologie ist ein Bild des eritreischen Künstlers Ermias Ekube präsentiert, das speziell für das Werk angefertigt wurde. In düsterem Licht zeigt es die Hände einer Person, hinter dem Rücken gekreuzt. In der rechten Hand hält die Person ein Ei. «Ekube verwendet oft Eier in seinen Gemälden. Der Inhalt des Eis ist durch die Schale komplett von der Aussenwelt abgeschnitten. Das Ei kann für Eritrea stehen. Aus Eritrea kommt auch kaum etwas rein oder raus, das Land ist von der Aussenwelt abgeschottet.»

Ein weiterer wichtiger Bestandteil des Werks ist die Sammlung mit Gedichten, die Mekonnen teils selbst aus dem Tigrinischen, einer der Landessprachen Eritreas, übersetzt hat. Er persönlich schreibt ebenfalls am liebsten auf Tigrinisch. «Wenn ich ein Gedicht schreibe, versuche ich, sehr tiefsitzende Emotionen zu vermitteln. Auf Englisch würde mir dies vermutlich nicht gelingen.» Abgesehen vom artistischen Gehalt können Gedichte jedoch auch Missstände politischer Regression freilegen oder Aufmerksamkeit für ein Thema schaffen – kurz: Sie können den Dialog formen.

Kantönligeist in 
Migrationsfragen

In der Schweiz stiess die Umsetzung des Programms von ICORN allerdings auf bürokratische Hürden. Das Projekt, Luzern als «Stadt der Zuflucht», konnte nach dem Ende von Daniel Mekonnens Stipendium im Oktober 2017 nicht fortgeführt werden. Das Amt für Migration des Kantons Luzern lehnte das Gesuch um eine Kurzaufenthaltsbewilligung des zweiten Stipendiaten aus dem Irak ab – denn in der Schweiz werden Migrationsentscheide auf kantonaler Ebene geregelt. Der bürgerlich geprägte Kanton Luzern führt eine strikte Migrationspolitik, dies zeigt auch ein erst wenige Wochen junges Beispiel: Vier irakischen Künstlern, die an der Luzerner Comic Ausstellung «Fumetto» vom 14.–22. April ihr Werk präsentieren sollten, wurde vom Kanton kein Einreisevisum gewährt.

Mekonnen hingegen hatte Glück. Er hat heute seinen permanenten Wohnsitz in Genf, lebt dort mit seiner Frau und seiner Tochter. Dem Schriftsteller kam zugute, dass seine Frau bereits während der Zeit seines Schaffens in Luzern eine dauerhafte Aufenthaltsbewilligung in der Stadt Genf erhielt. Er ist erstaunt, dass Migrationsfragen in der Schweiz auf kantonaler und nicht auf nationaler Ebene geregelt werden. «Während meiner kurzen Zeit als Gastdozent in Neuchâtel erhielt ich mühelos meinen B-Ausweis; ich musste nur beweisen, dass ich mich selbst finanzieren kann. Danach, in Luzern, war der Prozess viel schwieriger.»

Als nach Mekonnens Stipendium also klar wurde, dass das Programm so nicht weiter durchführbar ist, versuchte das Deutschschweizer PEN-Zentrum, einer der zahlreichen nationalen Ableger von PEN Interna-tional, einen neuen Standort in der Schweiz zu finden. Und tatsächlich: Seit November 2017 liegt eine Absichtserklärung vor, das Programm in der Stadt Bern fortzusetzen.

Starkes 
Mobilisierungspotenzial

Während seines Aufenthaltes in der Zentralschweiz konnte sich Daniel Mekonnen auch politisch engagieren. Er war beispielsweise massgebend beteiligt am Report des Menschenrechtsrates, der den Status der Menschenrechte in Eritrea prüfte, indem er zahlreiche Zeugenaus-sagen von geflüchteten EritreerInnen sammelte und auswertete. Eritrea hat in der Schweiz eine sehr grosse Diaspora und damit ein starkes Mobilisierungspotenzial. Als der Menschenrechtsreport zur Lage in Eritrea 2015 veröffentlicht wurde, beteiligten sich über 5’000 EritreerInnen an einer Protestaktion in Genf zur Unterstützung des Reportes und um ihre Opposition gegenüber dem Regime auszusprechen. «Das war ausserhalb Eritreas bisher die grösste Demonstration gegen Afewerkis Regime überhaupt», sagt Mekonnen. Was ihn persönlich motiviert, ist eine tiefgreifende Hingabe, Ungerechtigkeit zu bekämpfen. «Wenn du liebst, was du tust, dann wirst du auch nie müde davon». Er zweifelt auch nicht daran, dass eine Veränderung in Eritrea geschehen wird. «Das mag in fünf oder auch in zehn Jahren sein. Aber irgendwann wird der Mann an der Macht sterben. Das System funktioniert ohne ihn nicht und wird kollabieren.» Ob die Veränderung nach Diktator Afewerkis Tod sich zugunsten einer demokratischen Gesellschaft orientiert, kann Mekonnen jedoch nicht mit Bestimmtheit sagen.

«Während meiner kurzen Zeit als Gastdozent in Neuchâtel erhielt ich mühelos meinen B-Ausweis; ich musste nur beweisen, dass ich mich selbst finanzieren kann. Danach, in Luzern, war der Prozess viel schwieriger.»

Neuste Entwicklungen – zahlreiche EritreerInnen in der Schweiz erhielten einen Brief, der sie darüber informierte, dass ihr Flüchtlingsstatus neu bewertet wird – sieht er als Äusserung eng begrenzter politischer Interessen. «Unter dem Strich hat sich der Grund für die Leute, die aus dem Land fliehen, nicht verändert.» Auch die Ergebnisse von sogenannten Expertenteams aus der Schweiz, die sich selbständig von der Lage in Eritrea ein Bild machten und zum Resultat kamen, sie sei gar nicht so schlimm, wie der Menschenrechtsrat es darlegt, verwirft Mekonnen. «Die Verbrechen geschehen auch nicht auf der Strasse, sondern in geheimen Gefängniskomplexen, von der die Öffentlichkeit nichts weiss.»

Nach knapp zwei Stunden Unterhaltung mit dem ruhigen und sich bedacht ausdrückenden Mann brechen die Strahlen der Abendsonne durch die bodentiefen Fenster der Lobby. Das Gespräch neigt sich dem Ende zu, Daniel Mekonnen muss weiter. Seine Mission sieht er erst als erreicht, wenn der Untergang des Regimes in Eritrea erfolgt ist. Weiter denkt er noch gar nicht. Wie es danach weitergehen könnte, wird vielleicht dann auch die Aufgabe der nächsten Generation sein.

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