Rollen bald Panzer durch Athen?

Welcome to Athens

«Welcome to Athens» Bild: Rafael Egloff

05. Oktober 2015

Von und

Alexis Tsipras geht erneut als Sieger aus den Wahlen hervor. Das griechische Volk sendet damit zum dritten Mal innerhalb eines Jahres deutliche demokratische Signale gegen die Sparpläne der Europäischen Institutionen und für das linke Projekt Syriza. Doch in Athen stellt sich nach dem Polittheater der vergangenen Monate für viele eine ganz grundsätzliche Frage: Hat das griechische Volk überhaupt noch etwas zu melden?

Spyros erzählt in diesen Tagen gerne die Geschichte Sokrates, der vor der athenischen Volksversammlung wegen angeblicher Verderbung der Jugend und Missachtung der Götter in zweifelhafter Weise zum Tode verurteilt wurde: «Auch wenn Sokrates von seiner Unschuld überzeugt war, leistete er aus Treue zur demokratischen Idee keinen Widerstand: Er schlug die Möglichkeit aus ins Exil zu gehen und trank das tödliche Schierlingsgift mit feierlicher Geste. Es sei besser zu sterben, als schändlich handelnd sein Leben zu bewahren, meinte er.» Erst im Laufe unseres Gesprächs beginne ich zu verstehen, wieso Spyros ausgerechnet auf einen Denker der Antike verweist, wollten wir doch die Auswirkungen einer modernen Finanzkrise diskutieren.

Wir sitzen in einer Bar im autonomen Athener Stadtteil Exarchia. Die Wände der umliegenden Häuser sind allesamt mit Streetart oder Plakaten überzogen, welche mit bitterer Ironie auf die Krise anspielen oder in grossen Lettern zu Protesten aufrufen. «Welcome to Athens» steht da neben fliegenden Molotowcocktails. Gerade in Exarchia wird deutlich: Athen befindet sich in stürmischen Zeiten. Das Quartier ist für sein reges Nachtleben bekannt und gilt als Sammelbecken für Systemmüde, Kunstschaffende und ImmigrantInnen. «Ich bin zwar nicht wie die meisten Leute hier, aber ich mag sie», meint Spyros, der als Assistenzprofessor an der technischen Universität in Athen arbeitet. Während der Krise habe er viel Geld verloren: «Ich hatte zu hoch gepokert, nun bin ich an mehreren stillgelegten Bauprojekten beteiligt. Vielen hier erging es so – niemand rechnete mit den Zuständen, die wir heute erleben müssen.»

«Viele Ärzte verlangen nun Schmiergeld, um die Patienten zu behandeln.»

Eiskaltes Sparen trotz grosser Versprechen

Der harte Sparkurs der letzten Jahre verschlimmere die Situation zusätzlich, ist Spyros überzeugt. Diese Meinung ist in Griechenland weit verbreitet. Dass der Staat an allen Ecken und Enden Ausgaben wegrationalisiert, ist schliesslich für die Bevölkerung auch spürbar. Gerade im Gesundheits- und Bildungsbereich wurden einschneidende Massnahmen getroffen, um den überschuldeten Staatsapparat zu entlasten. Der daraus resultierende Personalmangel hat verheerende Folgen: «Viele Ärzte verlangen nun Schmiergeld, um die Patienten zu behandeln. Mein Vater, der eine Operation benötigt, ist seit Wochen auf einer Warteliste, und das wird sich wohl nicht ändern, bevor wir etwas bezahlen», klagt Spyros.

Dabei spuckte Tsipras Anfang des Jahres noch grosse Töne und sagte der Sparpolitik einen wilden Kampf an. Die Hoffnungen des griechischen Volkes ruhten auf seinen vollmundigen Wahlversprechen. Doch nach aufreibenden Verhandlungen musste er am Rande des Staatsbankrotts seine Niederlage eingestehen. Seither fügt sich seine Partei Syriza den Reformvorgaben der Europäischen Institutionen, und politisiert gezwungenermas-sen diametral dem Parteiprogramm entgegen: der griechische Staat wird weiter zusammengestrichen und durch Privatisierung enteignet.

Aufruf Demo Athen

Bild: Rafael Egloff

Ist Syriza noch ein linkes Projekt?

Es ist nicht mehr viel übrig geblieben vom grossen Umbruch, den sich nicht wenige im europäischen Süden nach den ersten krawattenlosen Auftritten Tsipras’ oder spätestens den verwegenen Motorrad-Schnappschüssen vom ehemaligen Finanzminister Varoufakis erhofft haben. Mit linker Politik haben Liberalisierung des Arbeitsmarkts, Angriff auf Renten und Privatisierung in allen möglichen Sektoren auf jeden Fall herzlich wenig zu tun.

Verständlich also, dass das Vertrauen in Syriza arg gelitten hat. «Es war von Anfang an klar, dass Syriza eine europaorientierte Partei ist. Doch wenn wir in der EU und im Euro bleiben, werden uns die Massnahmen aufgezwungen und unsere Lage wird sich weiter verschlimmern», flucht Spyros. Er habe seine Stimme aus diesem Grund der kommunistischen Partei gegeben, auch wenn er nicht kommunistische Ideale verfolge: «Da kann ich mich wenigstens drauf verlassen, dass sie ihr Wort halten und in der Opposition bleiben.»

«Es war von Anfang an klar, dass Syriza eine europaorientierte Partei ist.»

Er beginnt auf dem kleinen Tischchen die Parteilandschaft mit Salzstreuern und Pfeffermühlen darzustellen. Durch das Akzeptieren des Referendums im Sommer sei Syriza in die Mitte gerückt: Spyros schiebt den Syriza-Salzstreuer von seiner linken Position so energisch mit der PASOK, der Nea Demokratia-Pfeffermühle und den kleineren Mitteparteien zu einem Haufen zusammen, dass es klirrt. Abgesehen von diesem Mitteknäuel bleiben nur noch die Kommunisten auf linker und die Nazis der «Goldenen Morgenröte» auf rechter Seite übrig.

Mangelnde Alternativen

Es scheint, als könne sich das Volk nur noch zwischen der verhassten Austeritätspolitik und radikalen Utopien entscheiden. Eine sowohl triste als auch beunruhigende Situation: «Auf Dauer kann das nicht gut gehen. Die Leute werden unzufrieden. Wenn es so weiter geht, werden bald Panzer durch die Strassen Athens rollen», prophezeit Spyros.

Die älteste Demokratie der Welt bröckelt. Von der Treue zu demokratischen Entscheiden, wie sie Sokrates zeigte, lässt sich derzeit bestenfalls träumen. Es hängt wohl hauptsächlich vom internationalen Druck auf die Regierungskoalition ab, ob sich dies in naher Zukunft verändern wird. Die griechische Wählerschaft ihrerseits hat ein weiteres klares Zeichen gesetzt und fordert dementsprechend nun von ihrem Premier Tsipras entschlossenes Handeln. Wird das Wort der Bevölkerung weiterhin technokratisch übergangen, bleibt bloss zu hoffen, dass die Molotows und Armeepanzer nicht tatsächlich von Streetarts und Gedankenspielen zur Realität werden.

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